0060 - Der Geisterfahrer
sie einen Eingang in die Kellerräume und Gewölbe suchen.
Denn sie nahmen an, daß der oder die Urheber des Spuks sich tagsüber dort verbargen. Was auf sie zukam und wie sie damit fertigwerden wollten, wußten sie noch nicht genau. Ihre Kenntnisse über Schwarze Magie und dämonische Mächte beschränkten sich auf das, was ihnen John Sinclair erzählt hatte.
Und auf den Besuch einschlägiger Horrorfilme zu Hause in Frankreich. Mit dem Kreuz und einem Weihwasserflakon meinten sie schon allerhand ausrichten zu können.
Bernard hatte vor, in der Küche der Jugendherberge zwei Fleischmesser zu entwenden, die sie mit Weihwasser besprengen wollten.
»Kennst du ein geeignetes Gebet, Jean?« fragte Bernard.
»Mir fällt im Moment außer dem Vater unser nur ein: Ich bin klein, mein Herz ist rein…«
»Unsinn, das paßt nicht«, sagte Bernard. »Im Ernstfall rufen wir: Nieder mit dem Schwarzen Tod: Asmodis, raus aus Felseneck!«
Der Plan war beschlossen. Und was als eine Komödie begann, das konnte rasch als eine dämonische Tragödie enden. Leichtsinn und Liebe trieben die beiden jungen Franzosen. Sie wußten nicht, worauf sie sich einließen.
Sie waren wie Kinder, die sich einbildeten, mit einem Spielzeuggewehr einen Panzer abschießen zu können.
***
Nach dem Mittagessen wollte Suko ein Nickerchen halten. Auch Roxane und Gisela hatten sich aufs Zimmer zurückgezogen. Die beste Gelegenheit für Jean Arnois und Bernard Roget also, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das Mittagessen, ein Eintopf, hatte wie Leim geschmeckt. Doch Bernard war es immerhin gelungen, in einem unbewachten Moment zwei lange Fleischmesser aus der Herbergsküche zu holen.
Mit Kreuz und Weihwasserflakon schlichen sich die beiden Freunde aus der Kemenate. Sie hörten Suko bis in den Flur hinaus schnarchen.
»Sollen wir versuchen, Sinclairs Einsatzkoffer zu entwenden?« fragte Jean, als sie draußen vor der Gebäudetür standen.
»Lieber nicht, sonst wacht der Chinese womöglich noch auf. Außerdem ist dieser Sinclair clever. Bestimmt hat er seinen Einsatzkoffer irgendwie gesichert.«
Bernard hatte recht. Der Spezialkoffer hatte Sicherheitsschlösser. Hantierte ein Unbefugter daran, der nicht genau die richtigen Handgriffe beachtete, dann strömte aus einer Düse ein hochwirksames Betäubungsgas aus.
Es hätte Jean und Bernard binnen zwei Sekunden gefällt. Sie spähten umher. Jeder trug außer den Mitteln gegen die Dämonen noch eine Taschenlampe bei sich, die zu ihrer Wanderausrüstung gehörte.
Und Jean hatte den rostigen alten Schlagring seines Großvaters in der Tasche.
Der Burghof lag leer, es war niemand zu sehen. Die Baugerüste, die Kalkwannen und die Mischmaschine standen noch da. Und hinter und neben dem Hauptgebäude lag der Erdaushub.
Jean und Bernard beschlossen, beim Söller anzufangen. Die massive Holzbohlentür war mit einem Vorhängeschloß versperrt. Bernard zog sein Schnupftuch aus der Tasche. Er schob ein Ende durch den Bügel des Vorhängeschlosses, nahm beide Enden und ruckte ein paarmal kräftig. Mit dieser ebenso primitiven wie wirksamen Methode öffnete er das Schloß.
»Gewußt wie!«
Die beiden Studenten schlüpften in den Söller und zogen die Tür hinter sich zu. Es war düster, und es roch modrig. Jean wollte die Wendeltreppe hinauf nach oben steigen, aber Bernard hielt ihn am Parkazipfel zurück.
»Moment. Wir wollten in die Gewölbe eindringen, mon ami.«
»Los!«
Der wuchtige Söller hatte einen Gewölberaum und eine enge Nische. Im Halbdunkel stiegen die Franzosen hinunter. Allerlei altes Gerumpel lag herum, eine Ratte quiekte. Jean und Bernard knipsten die Taschenlampen an.
Sie untersuchten die Mauerfugen sorgfältig.
Bernard fiel das Fleischmesser aus der Hand. Er bückte sich, um es aufzuheben, dabei sah er, daß in eine Mauerfuge ein modriger Stoffetzen eingeklemmt war. Sofort wies er Jean darauf hin.
Er schob die Messerspitze in den Spalt und probierte. Ein Druckwiderstand gab nach, und im nächsten Moment schwang ein Teil der Wand zurück. Ein finsteres Loch gähnte. Kalte, nach Schwefel und Verwesung stinkende Luft quoll heraus.
Jean und Bernard überwanden ihren Abscheu. Sie drangen in den Geheimgang vor, und die Tür schloß sich hinter ihnen. Der Gang, in dem Mörtel, Staub, Spinnweben und niedergebröckelte Steine lagen, war knapp Einssiebzig hoch und etwa einen Meter breit.
Geduckt schlichen die zwei Freunde voran, die Messer stoßbereit. Ihre Taschenlampen erhellten das Dunkel.
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