0060 - Der Geisterfahrer
Plötzlich ertönte ein schriller Schrei, und die beiden erschraken fürchterlich. Ein Schemen flatterte ihnen entgegen.
Aber es war nur eine Fledermaus. Die Studenten konnten aufatmen.
»Weiter!« rief Bernard Roget, der die treibende Kraft bei dem Unternehmen war.
Jean Arnois wünschte längst, Burg Felseneck den Rücken gekehrt zu haben. Aber er wollte sich von seinem kleinen Freund nicht beschämen lassen und nicht als ein wortbrüchiger Feigling dastehen.
Bernard aber hatte die Liebe blind gemacht für die Gefahr.
Die beiden gelangten an eine Abzweigung. Feuchte, kalte Luft schlug ihnen entgegen, der Geruch war sehr übel. Sie sahen Tageslicht.
»Dort ist der Brunnenschacht«, sagte Bernard. »Wir gehen geradeaus weiter.«
Sie passierten weitere Abzweigungen. Auf den Steinen des Geheimgangs wuchs an manchen Stellen zentimeterdick der weißliche Mauerschwamm. Viele Steine waren mit Kristallen und Phosphaten überzogen. Und an einer Abzweigung sprossen bleiche Pilze.
Mitten in diese Pilze hatte ein unförmiger Fuß hineingetreten.
»Hier unten treiben sich noch andere herum«, stellte Bernard fest.
Kurz darauf standen die Studenten vor einer Mauer. Ein Stein ragte hervor, Bernard drückte darauf. Quietschend und rumpelnd öffnete sich ein Mauerstück. Der Schein der Taschenlampen fiel auf Flaschenregale und wuchtige Fässer. Jean und Bernard waren im Weinkeller unter dem Wirtschaftsgebäude gelandet.
»Das lasse ich mir gefallen«, lachte Jean. »Jetzt nehmen wir erst einen Schluck zur Stärkung.«
Bernard sagte nicht nein. Sie traten in den Weinkeller. Durch die halbrunden Kellerfenster fiel nur wenig Tageslicht ein. Schmutzig und staubig waren diese Fenster, mit Spinnweben verhangen.
Jean und Bernard lauschten und schauten sich in dem gewölbeartigen Keller um. Sie hörten nur das Fallen eines Wassertropfens. Und außer ein paar Kellerasseln war kein lebendes Wesen zu entdecken.
Ein schwacher Weingeruch drang ihnen angenehm in die Nase. Jetzt begannen sie mit der Überprüfung der Regale. Jean hielt schließlich eine staubige Flasche empor. Das Etikett hatte er ein wenig saubergewischt.
Es handelte sich um einen Müller-Thurgau, Jahrgang 55, Rheinhessen, Spätlese.
»Das ist ein Tröpfchen!« sagte Bernard beifällig. »Genau richtig für uns zwei Genießer. Der fette Künzler weiß, was gut ist.«
»Sein Weinkeller ist auch das einzig Sympathische an ihm«, meinte Jean. »Hast du einen Korkenzieher, Bernard? Es ist direkt eine Sünde, daß wir diesen herrlichen Wein aus der Flasche trinken müssen.«
An Bernards Taschenmesser war ein Korkenzieher angebracht. Nicht ohne Mühe zog Jean den Korken. Ihre Taschenlampen hatten die beiden Studenten aufs Bord gelegt und ausgeknipst.
»Zum Wohl«, sagte Jean, hob die Flasche und ließ einen Schluck über die Zunge zum Gaumen rinnen.
Er kostete mit geschlossenen Augen. Bernard nahm die Flasche, wischte den Hals ab und hob sie ebenfalls zum Salut.
»Auf Roxane! Auf unsere drei Kinder und meine spätere Zahnarztpraxis!«
Auch er trank genießerisch.
»Hm, das schmeckt nach mehr.«
Er reichte Jean die Flasche. Da erscholl ein dämonisches Geheule, so unvermittelt, daß die beiden Freunde heftig zusammenschraken. Jean ließ die Flasche fallen, sie zerklirrte am Boden. Ein grünliches Licht erleuchtete plötzlich den Weinkeller. Dietrich Künzler trat hinter dem Regal hervor.
Der fette Burgverwalter hatte sich kerzengerade aufgerichtet. Sein Gesicht war zu einer dämonischen Fratze verzerrt. Seine Pupillen glühten. In seiner rechten Handfläche leuchtete ein verkleinertes Abbild der Flammenscheibe über dem Söller, als er die Hand hob.
»Ihr habt es gewagt!« sagte er mit grollender Stimme. »Kreaturen der Finsternis, Sklaven des Schwarzen Todes, packt sie!«
Zwei Geheimtüren sprangen auf. Heraus drängte sich eine Schar von anderthalb Dutzend Monstern. Vampire, Werwölfe, Ghouls, Wiedergänger und Schatten umringten die angstbleichen Studenten.
Grollend und fauchend drang die Meute vor. Leichen- und Modergestank umwehte sie. Dietrich Künzler stand im Hintergrund, der Adept befehligte diese Schar.
Jean und Bernard fielen ihre lockeren Studentensprüche nicht ein. Schlotternd hob Jean das Kreuz und tastete mit zitternder Hand nach dem langen Fleischmesser. Die höllische Meute vermied es, das Kreuz anzuschauen.
Ein Ghoul umschlang Jean mit seinen Quallenarmen. Bernard wehrte sich nachhaltiger. Er nahm eine Weinflasche vom Regal und hieb sie
Weitere Kostenlose Bücher