0072 - Ich war kein Fraß für Tiger
gebrüllt, als ich den ersten Tiger von der Felskuppe herabspringen und in meine Richtung kommen sah. Irgendwann bin ich dann ohnmächtig geworden, aber mein Gebrüll muss doch noch geholfen haben. Jedenfalls werde ich zeit meines Lebens nicht den Augenblick vergessen, wie der Tiger auf einmal über mir war…«
Abermals musste er eine Pause machen, um sich von den Anstrengungen des Sprechens zu erholen. Dann sagte er entschlossen: »Es kann nur Boy Raine gewesen sein. Er allein wusste, dass ich in den Zoo kommen würde. Kaufen Sie sich Boy Raine. Sie finden ihn im Hinterhof von 1426, 102. Straße. Da steht eine kleine Bude. Dort trafen wir uns immer. Zwei von den Boys unserer Gang wohnen da auch. Boy ist jeden Abend da. Kauft euch den Halunken, Doc, ja?«
Ich nickte.
»Ich will kein Theater mit Ihnen spielen, Masters«, sagte ich. »Weil Sie auch keins mit mir gespielt haben. Ich bin kein Arzt. Auch kein Polizeiarzt. Ich bin G-man.«
»Was?«, staunte er. »Und Sie wollen sich wirklich um die Sache kümmern?«
»Ja, Jimmy. Das verspreche ich Ihnen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden habe ich Boy Raine, darauf können Sie sich verlassen.«
»Prima!« Er grinste vor sich hin. »Freu dich, Boy! Ein richtiger G-man wird dir einheizen…«
***
Es war kurz nach zehn Uhr, als ich meinen Wagen in die 102. Straße lenkte.
Meine Lippen lagen fest aufeinander. Ich wusste, was mir bevorstand. Aber um ein Geständnis zu erhalten, wollte ich den gefährlichen Bluff riskieren, den ich mir überlegt hatte.
In einer Seitenstraße ließ ich den Jaguar stehen. Bevor ich ausstieg, untersuchte ich meine Kanone. Das Magazin war voll, und die Mechanik der Waffe funktionierte wie immer.
In der 102. Straße herrschte der Betrieb, den man um diese Zeit erwarten durfte. Leute bummelten über die Bürgersteige, Männer zogen von einer Kneipe zur anderen, ein paar Halbwüchsige standen in den Hauseingängen herum oder lümmelten sich gegen die Häuserwände.
Ich achtete nicht auf sie, und sie nahmen von mir keine Notiz. Langsam ging ich die Straße entlang. Über den Kneipen flammten die bunten Neonreklamen, ein paar Schaufenster waren erleuchtet, und die Straßenlaternen brannten. Es herrschte jenes unterschiedliche Helldunkel, wie man es in Großstädten zur Nachtzeit zu sehen gewohnt ist.
Wenn sie auf meinen Bluff hereinfielen, hatte ich ein handfestes Argument gegen sie in der Hand. Wenn sie mich aber durchschauten, dann konnte es sehr ungemütlich für mich werden.
Ich achtete auf die Hausnummern. Als ich das Gebäude erreicht hatte, das Jimmy mir genannt hatte, blieb ich stehen und steckte mir eine Zigarette an. Dabei ließ ich meinen Blick unauffällige in die Runde schweifen.
Es war nichts Auffälliges zu sehen. Wenn im Hof wirklich ihr Schlupfwinkel war, dann mussten sich die Brüder aber sehr sicher fühlen, denn sie hatten nicht einmal den üblichen zeitungslesenden Eckensteher aufgestellt.
Ich trat in die Toreinfahrt, die nach hinten führte. Der Hof war nicht größer als zwanzig mal fünfzehn Yards. Ungefähr in der Mitte stand eine kleine flache Bude, die auf der mir zugewandten Seite zwei Fenster hatte. Sie waren von Vorhängen verhangen, aber dahinter brannte Licht.
Ich ging leise darauf zu. Meine rechte Hand war halb geöffnet und bereit, in jeder Sekunde zur Pistole zu greifen. Die linke Wand der Bude barg eine windschiefe Tür. Dahinter waren unterdrückte Stimmen zu hören.
Eine Sekunde zögerte ich, dann zog ich meine Pistole und riss die Tür auf. Mit einem Sprung stand ich jenseits der Schwelle.
Drei Männer saßen an einem Tisch und würfelten. Sie sahen mich völlig verdattert an. .
»Bleibt sitzen, Boys!«, warnte ich sie. »Keine unbedachte Bewegung, sonst speit meine Artillerie Gift und Galle!«
Sie hoben unwillkürlich die Hände. Die Mündung einer Pistole ist immer eine eindeutige Aufforderung zu Arm-Gymnastik.
Ich sah mich rasch in der Bude um, wobei ich aber die Drei nicht aus dem Blickfeld ließ. Eine Tür, die in ein kleineres Seitengemach führte, stieß ich mit dem Fuß auf und leuchtete mit meiner Taschenlampe kurz hinein. Der Raum war leer.
Auch in dem massigen Kleiderschrank in der rechten Ecke hatte sich niemand versteckt.
Okay, jetzt kannte ich die Zahl meiner Gegner und die Örtlichkeit. Ich zog mir einen Stuhl gegen eine fensterlose Wand, sodass auf jeden Fall mein Rücken gedeckt war, und setzte mich darauf.
»Wie heißt du?«, fragte ich den Burschen, der mir am nächsten
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