0078 - Im Geisterreich der Wikinger
Mädchens.
Nicole schlug das Herz bis zum Hals, als sie die Drehtür erreichte, die hinaus auf die Straße führte. Gehetzt blickte sie sich um. Noch war keiner der Mörder in Sicht. Auch von den anderen Hotelgästen war nichts mehr zu sehen. Diese hatten sich wahrscheinlich irgendwo im Haus versteckt. Nur die Serviererin schien das gleiche Ziel zu haben wie sie selbst.
Ziel? Nein, mit Sicherheit hatte die Blondine kein Ziel. Die Panik saß ihr im Nacken. Sie lief einfach weg von dem Grauen, das sie in ihrem Rücken spürte.
Nicole verschenkte eine kostbare Sekunde, um das Mädchen aufschließen zu lassen.
»Kommen Sie, Lucille!« rief sie.
Die Serviererin war jetzt heran.
»Wohin, Mademoiselle?« fragte sie mit zitternder Stimme, die nicht weit von der Hysterie entfernt war. »Wohin sollen wir denn nur laufen?«
»Ich habe eine Idee«, sagte Nicole und zog das Mädchen mit sich in das Gehäuse der Drehtür. »Wir können versuchen, mit dem Auto zu fliehen. Das Gelände rings um St. Briand ist zwar unwegsam, aber ich denke, daß zwei, drei Kilometer schon genügen könnten.«
»Die Mörder werden uns verfolgen«, wimmerte Lucille.
»Nicht unbedingt. Die Wikinger waren für Blitzaktionen bekannt. Unvermutet auftauchen, morden und rauben, wieder verschwinden… Langwierige Verfolgungsjagden ins Landesinnere standen selten auf ihrem Programm. Sie zogen sich meist so schnell wie möglich wieder auf ihre Schiffe zurück.«
Die beiden Mädchen traten auf die Straße. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Hoffentlich waren die Mordbrenner hier noch nicht gegenwärtig.
Sie waren schon da. Ihr wildes Kampfgebrüll ausstoßend, machten sie Jagd auf Dorfbewohner, mordeten sie mit ihren Schwertern und Äxten, schossen den Fliehenden Pfeile in den Rücken. Andere drangen johlend in die Häuser auf der anderen Straßenseite ein.
Nicole war nicht die einzige, die daran gedacht hatte, mit dem Wagen zu fliehen. Sie sah, wie zwei Männer gerade in einen Peugeot stürzten, sah eine Ente, die bereits angefahren war. Die Nordmänner, die die aus eigener Kraft rollenden Wagen sahen, machten höchst erstaunte Mienen. Kraftfahrzeuge gehörten nicht zu ihrem Erfahrungsschatz.
»Schnell!« zischte Nicole.
Mehrere der Piraten hatten sie und die Serviererin bereits gesehen.
Ein Bogen wurde auf sie angelegt, dann aber wieder gesenkt. Dem Schützen war wohl eingefallen, daß es für junge Frauen eine bessere Verwendung gab als den Tod. Der Kerl setzte sich in Bewegung, kam gemeinsam mit ein paar Kumpanen angerannt.
Es ging um Sekunden. Der Citroën stand nur etwa zehn Meter vom Hoteleingang entfernt.
Nicole sprintete los, gefolgt von der Blondine. Nie in ihrem Leben war sie so schnell gelaufen. Im Rekordtempo erreichte sie die schwarze Limousine.
Schon vorher hatte sie den Schlüssel hervorgekramt. Jetzt steckte sie ihn mit leicht zitternden Fingern ins Schloß. Knackend sprang die Verriegelung auf. In Windeseile öffnete sie die Tür.
»Los, rein, Lucille!« wies sie das Mädchen an.
Die drei Wikinger, die es auf sie abgesehen hatten, brauchten jetzt nur noch wenige Meter zurückzulegen. Dann konnten sie ihre Mordhände nach Nicole ausstrecken.
Lucille hatte schnell geschaltet und sich regelrecht in die Limousine hineingeworfen. Sofort rutschte sie weiter auf den Beifahrersitz.
Nicole sprang ebenfalls in den Wagen, knallte die Tür hinter sich zu und verriegelte sie von innen.
Sie hätte es keine halbe Sekunde später tun dürfen. Schon waren die drei Nordmänner zur Stelle. Sie mochten zwar nicht wissen, was ein Auto war, aber sie besaßen eine schnelle Auffassungsgabe. Einer von ihnen streckte die Hand aus und riß am Türgriff. Durch die geschlossene Scheibe hörten die beiden Mädchen seinen Wutschrei, als er erkannte, daß die Tür dennoch geschlossen blieb.
Nicole rammte den Schlüssel ins Zündschloß, drehte ihn herum.
Der Motor kam sofort.
Aber noch hatten sie es nicht geschafft. Die Wikinger ließen sich durch das für sie sicherlich unheimliche Brummen der Maschine nicht irritieren. Und sie waren nicht gewillt, ihre Beute entkommen zu lassen.
Ein Axthieb zerschmetterte die Seitenscheibe. Scherben rieselten auf Nicole herab. Schon fuhr eine schwielige Hand durch die Öffnung und packte Nicole brutal am Hals. Eine rauhe Männerstimme sagte etwas zu ihr, was sie natürlich nicht verstand.
Inzwischen hatte sie den Wählhebel in die Fahrt-Position gebracht und den Fuß auf das Gaspedal gesetzt.
Der Citroën
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