0080 - Augen des Grauens
doch hier?«
»Ja, im zweiten Stock. Aber sie ist nicht zu Hause. Sie arbeitet nachts.«
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Sie wird auch nicht mehr kommen. Sie ist tot!«
»Was?« Der Mann sperrte Mund und Augen auf. Unwillkürlich zog er den Bademantel fester um seinen Körper.
»Selbstmord«, erklärte ich. »Und deshalb möchte ich mir die Wohnung anschauen.«
Er nickte. »Okay, kommen Sie. Meine Frau hat einen Zweitschlüssel.« Er führte mich in die Wohnung und ließ mich in der Diele warten.
Der Mann verschwand im Schlafzimmer, sprach dort mit seiner Frau einige Worte und kam zurück. »Kommen Sie«, sagte er.
Ich hielt ihm meine Hand hin. »Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Mister. Wenn Sie mir nur sagen würden, wo ich die Wohnung finden kann?«
»Sicher, sicher.« Er hatte sich jetzt seine Brille aufgesetzt. Hinter den Gläsern sah ich seine erstaunten Augen. Ich bekam den Schlüssel und bedankte mich für die Hilfe.
Dann stieg ich die breiten Steintreppen hoch. Inzwischen verlöschte das Flurlicht, und ich schaltete es wieder an.
Wenig später stand ich vor der Tür.
Sie besaß zur Hälfte einen Glaseinsatz und bestand sonst aus dickem, dunkel gebeiztem Holz.
Ich schloß auf und betrat die Wohnung.
Auch hier roch ich den Parfümgeruch.
Fünf Zimmer hatte die Stripperin bewohnt. Sie mußte wirklich gut in ihrem Job verdient haben.
Schlafzimmer, Küche und Livingroom ließen mich vorerst kalt, denn mich interessierte das Arbeitszimmer mit dem großen Erkerfenster, das zum Hof wies. Hinter der Scheibe sah ich die Zweige eines knorrigen Baums.
Das Zimmer war mit Anbaumöbeln eingerichtet. Nur der Schreibtisch stammte aus einer anderen Zeitepoche. Biedermeierstil.
Ich öffnete die Schubladen, fand Briefe, Scheckkarten und einige persönliche Gegenstände.
Dann sah ich das Notizbuch.
So etwas hatte mich schon immer interessiert.
Im Licht der Schreibtischlampe blätterte ich es durch.
Termine, ein paar Zahlen, mehr sah ich nicht. Bis ich das Kapitel mit den Adressen aufschlug.
Hier wurde es interessanter.
Den Buchstaben A konnte ich schnell überschlagen. Ebenso den folgenden.
Der nächste Buchstabe war C.
Dort stand nur ein Name.
Sheila Conolly!
***
Ich wischte mir über die Augen, denn ich konnte es nicht glauben, was ich dort gelesen hatte.
Der Name blieb.
Sheila Conolly!
Stella Strangeford und Sheila Conolly. Zwei Frauen, aber verschieden wie Tag und Nacht.
Die eine Ehefrau, fest in den bürgerlichen Gesetzen verankert, die andere eine Sängerin und Stripperin, die einen etwas lockeren Lebenswandel führte.
Die eine tot.
Und die andere?
Mein Herz klopfte schneller. Verzweifelt suchte ich nach einer Verbindung zwischen Sheila Conolly und Stella Strangeford.
Ich fand keine.
Noch einmal blätterte ich das Notizbuch durch, aber einen weiteren Hinweis auf Sheila fand ich nicht.
Nur dieser Name.
Doch der hatte gereicht.
Ich schaute auf meine Uhr. Es war fast halb zwei. Auch ich spürte die Müdigkeit, meine Augenlider wurden schwer, aber ich riß mich zusammen. Ich mußte herauskriegen, welch eine Verbindung zwischen den beiden Frauen bestand.
Darüber konnte mir unter Umständen Bill Auskunft geben oder Sheila selbst.
Das cremefarbene Telefon hatte ich im Livingroom gesehen. Ich ging hin, knipste eine Stehlampe an, deren Halbkugel ihr Licht auf den Apparat warf und tippte Bills Nummer in die Tastatur.
Zweimal läutete es durch. Dann wurde abgehoben, doch es meldete sich nicht Sheila oder Bill, sondern eine andere weibliche Stimme.
Eine Stimme, die ich ebenfalls gut kannte.
Jane Collins!
Wieder ein Hammer.
Ich hatte mich noch nicht mit Namen gemeldet, und Jane wiederholte ihren ersten Satz. »Hier bei Conolly.«
»Ich bin’s, John!«
»Nein!« Ein Schnaufen. »Daß du dich auch noch einmal meldest. Hast du deinen Anrufbeantworter abgehört.«
»Zum Teufel, nein. Ich bin dienstlich unterwegs. Kannst du mir mal sagen, was los ist?«
»Sheila ist weg!«
»Wie?«
»Sie ist verschwunden, John. Sie hat ihre Koffer gepackt und ist gegangen. Mitten in der Nacht und einfach so.«
»Dann stimmt es also doch«, murmelte ich.
»Was stimmt?«
»Das erkläre ich dir später. Sag mir nur noch, wie du jetzt zu Bill kommst!«
»Die Frage ist dumm, John. Kannst du dir nicht vorstellen, wie verzweifelt Bill ist? Er wußte nicht, was er machen sollte, versuchte dich zu erreichen, du warst nicht da, und dann hat er mich angerufen. John, begreife doch, Sheila hat ihren Mann
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