0099 - Hexennacht
tot! dachte Nicole erschrocken. Doch sie hoffte, daß sie sich irrte. Eine Tote brauchte man doch nicht zu fesseln.
Das schrille Gelächter der Diva riß sie aus ihren Überlegungen. »Einen größeren Gefallen hätten Sie mir gar nicht tun können«, kreischte sie, »jetzt habe ich nicht nur einen Tribut, sondern… Radegonde, hörst du mich? Wo seid ihr? Jetzt habe ich zwei!«
Sie breitete die Arme aus und ließ sich ins Wasser fallen. Atemlos hörte Nicole, wie sie vergnügt vor sich hinsang.
Nicole huschte zu der gefesselten June und kauerte sich bei ihr nieder.
»June Atkins, leben Sie? Geben Sie mir ein Zeichen, daß Sie noch atmen!« flehte sie.
Kraftlos öffnete das Mädchen die großen, blauen Augen. Sie waren matt und verzweifelt. »Ich bin verloren«, flüsterte es. »Sie hat meinen Tod beschlossen. Sie ist… sie ist eine Hexe, wußten Sie das?«
Nicole nickte schweigend. Dicht neben ihnen kam Harriet Gilberts Kopf aus dem Wasser. »Ja, verbündet euch ruhig gegen mich«, lachte sie, »ihr kommt hier nicht mehr heraus. Bald halte ich euch wie kleine Puppen in den Händen, werfe euch zu Boden und zertrete euch.«
Sadistischer konnte kein menschliches Wesen sein als diese unheimliche Frau!
Nicole spürte eine Gänsehaut.
»Man wird Sie hier finden«, sagte sie leise. »Glauben Sie nicht, daß Professor Zamorra seinen Mund hält. Er hat längst der Polizei alles erzählt und sie hierher geschickt.«
»Ha«, höhnte die Diva, »als ob die Polizei etwas gegen die Geister ausrichten könnte. Sie sind meine Schwestern. Sie sind mächtiger als Panzer und Pistolen und sogar als Atombomben. Und sie lassen mir meine Schönheit, wenn ich ihnen einen doppelten Tribut zolle.« Sie bog den narbigen Hals zurück und lachte girrend. »Sie sind schon hier, ganz in der Nähe.« Sie senkte die Stimme und sagte mit der Wichtigtuerei einer redseligen Frau, die eine Neuigkeit verrät: »Ich glaube, sie wollen es ganz festlich machen, mit Beschwörungen und Exzessen oder so ähnlich. Man nennt es ja wohl eine Schwarze Messe, wie?«
»Es richtet sich alles nur gegen Sie, Miß Gilbert«, erklärte Nicole langsam. »Das ist alles nur das Vorspiel. Die eigentliche Rache wird an Ihnen geübt. Glauben Sie nicht an das, was man Ihnen verspricht. Sie sind der Höhepunkt. Für Sie haben sich die Teufelinnen etwas ganz besonders Grausames ausgedacht…«
Die Augen der Diva blitzten haßerfüllt. »Du lügst, blöde Gans. Du saugst dir das alles nur aus den Fingern.«
»Nein.« Nicole hatte nur einen Wunsch: die Frau abzulenken und hinzuhalten. Vielleicht kam doch noch Rettung von außen?
»Es ist die volle Wahrheit, Miß Gilbert«, sagte sie ruhig. »Sie befinden sich in höchster Lebensgefahr, denn Ihre Ahnfrau Eve Livermore hat damals vierundzwanzig Frauen als Hexen proklamiert und dafür gesorgt, daß sie auf den Scheiterhaufen kamen.«
Harriet Gilbert blickte Nicole über den Rand des Swimming-pools an, und ihre Augen wirkten seltsam starr, fast glasig.
»Sie lügen«, sagte sie kalt. »Sie sind ein gottverdammtes Luder, das nichts anderes kann als lügen.«
Nicole begriff, daß jedes Wort, das sie zu der eitlen, ihr höchst unsympathischen Frau sprach, unbeachtet bleiben würde.
Ihr Herz klopfte wie verrückt. Immer deutlicher spürte sie, wie sich die Gefahr — einem Ring ähnlich — um sie herum spannte und sie einengte. Das Gefühl, in einer Falle gelandet zu sein, verstärkte sich.
Sie wußte, daß sie da waren.
Die Dämonenweiber, die Hexen von Boston, befanden sich in unmittelbarer Nähe.
Sie neigte sich zu June Atkins hinunter. »Wir müssen hier weg«, flüsterte sie. »Können Sie aufstehen und laufen?«
June sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, doch Nicole wußte nicht, was sie zu ihr sagte. Die Angst machte June wehrlos und zur Fatalistin. Sie war bereit, alles über sich ergehen zu lassen — sogar den Tod.
Noch immer kauerte Nicole neben ihr, doch sie bereitete sich auf die Flucht vor. Sie spannte die Muskeln, sah sich um — und schnellte blitzschnell hoch, verfolgt vom Lachen Harriets.
»Sinnlos, Miß«, schrie sie ihr nach.
»Es gibt kein Entrinnen mehr für Sie. Sie sind einer meiner Tribute, die ich meinen Schwestern zolle…«
Das Lachen der Diva ging Nicole durch Mark und Bein. Sie rannte zur Tür, hinter der sich ein großes Wohnzimmer befand, und stürzte in den erleuchteten Raum. Fiebernd flog ihr Blick über die Einrichtung. Nein, hier hielt
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