01_Der Fall Jane Eyre
Wir verfolgen einen Verdächtigen so lange,
bis wir ihn gefunden und außer Gefecht gesetzt haben, und widmen
uns dann dem nächsten. SO-4 macht mehr oder weniger dasselbe; nur
- 32 -
daß sie hinter anderen Dingen, äh, Personen her sind. Sie wissen
schon. Jedenfalls war ich heute morgen in Gad’s Hill, Thursday – ich
darf Sie doch Thursday nennen? – und habe den Tatort persönlich in
Augenschein genommen. Der Dieb des Chuzzlewit -Manuskriptshat
keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen, es gibt keine Hinweise auf
einen Einbruch, und auf den Überwachungsvideos ist auch nichts zu
sehen.«
»Das ist nicht viel.«
»Im Gegenteil. Das hat meinen ursprünglichen Verdacht bestätigt.«
»Haben Sie Boswell davon erzählt?« fragte ich.
»Warum sollte ich? Uns geht es nicht um das Manuskript, uns geht
es um den Mann, der es gestohlen hat.«
»Nämlich?«
»Ich kann Ihnen den Namen nicht sagen, aber ich kann ihn für Sie
aufschreiben.« Er zückte einen Filzstift, schrieb »Acheron Hades« auf
einen Notizblock und hielt ihn mir hin.
»Kommt Ihnen der bekannt vor?«
» Sehr bekannt sogar. Aber es dürfte kaum jemanden geben, der
noch nicht von ihm gehört hat.«
»Ich weiß. Aber Sie kennen ihn persönlich, nicht?«
»Und ob«, antwortete ich. »Er war ’68 einer meiner
Anglistikdozenten an der Swindoner Universität. Keiner von uns war
sonderlich verwundert, als er zum Kriminellen wurde. Er war ein
ziemlicher Frauenheld. Er hat sogar eine meiner Mit-Studentinnen
geschwängert.«
»Miss Braeburn, ja; das wissen wir. Wie steht es mit Ihnen?«
»Er hat es versucht, aber es hat nicht geklappt.«
»Haben Sie mit ihm geschlafen?«
»Nein; ich hatte andere Pläne, als mit meinen Dozenten ins Bett zu
gehen. Ich fühlte mich zwar geschmeichelt, wenn er mich zum Essen
einlud oder so. Er war schließlich ein Genie – aber moralisch war er
- 33 -
ein Vakuum. Ich weiß noch, wie er mitten in einem geistreichen
Vortrag über John Websters Weißen Teufel aus dem Hörsaal weg
verhaftet wurde, wegen bewaffneten Raubüberfalls. Sie konnten ihm
zwar nichts nachweisen, aber die Braeburn-Sache kostete ihn dann
doch seine Dozentur.«
»Und als er Sie bat, mit ihm zu kommen, haben Sie abgelehnt.«
»Sie scheinen ja bestens informiert zu sein, Mr. Tamworth.«
Tamworth machte sich eine Notiz. Dann hob er den Kopf und sah
mich an. »Aber die wichtigste Frage ist: Sie wissen genau, wie er
aussieht?«
»Logisch«, antwortete ich, »aber Sie vergeuden Ihre Zeit. Er ist ’82
in Venezuela ums Leben gekommen.«
»Nein; er hat seinen Tod vorgetäuscht. Ein Jahr später haben wir das
Grab geöffnet. Von einer Leiche keine Spur. Er hatte die Sache so gut
vorbereitet, daß er selbst die Arzte täuschen konnte; sie beerdigten
einen leeren Sarg. Er verfügt über bemerkenswerte Fähigkeiten.
Deshalb dürfen wir auch seinen Namen nicht laut aussprechen. Ich
nenne das die Regel Nummer Eins.«
»Seinen Namen? Warum nicht?«
»Weil er seinen Namen – selbst wenn man ihn nur flüstert – im
Umkreis von mindestens tausend Meilen hören kann. Mit seiner Hilfe
nimmt er sozusagen unsere Witterung auf.«
»Und wie kommen Sie darauf, daß er Chuzzlewit gestohlen hat?«
Tamworth holte eine Akte aus seinem Koffer. Sie trug die
Aufschrift »Streng geheim – nur für Angehörige von SpecOps-5«. Das
Passepartout auf dem Deckel, in dem normalerweise ein
Verbrecherfoto steckte, war leer.
»Wir haben kein Bild von ihm«, sagte Tamworth, als ich den Ordner
aufschlug. »Auf Film oder Video bleibt er unsichtbar und war nie
lange genug in Gewahrsam, als daß ein Zeichner ein Porträt von ihm
hätte anfertigen können. Erinnern Sie sich an die Kameras in Gad’s
Hill?«
»Ja. Und?«
- 34 -
»Sie haben nichts aufgezeichnet. Ich habe mir die Bänder genau
angesehen. Auch wenn alle fünf Sekunden der Kamerablickwinkel
wechselt, konnte ihnen der Eindringling unmöglich entgehen.
Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«
Ich nickte langsam und blätterte in Acherons Akte.
Tamworth fuhr fort: »Ich bin ihm seit fünf Jahren auf den Fersen. In
Großbritannien wird er wegen siebenfachem, in Amerika wegen
achtzehnfachem Mord gesucht. Diebstahl, Erpressung, Menschenraub.
Er ist eiskalt, berechnend und kennt keine Skrupel. Sechsunddreißig
seiner achtundvierzig bekannten Opfer waren entweder SpecOpsAgenten oder Polizeibeamte.«
»Hartlepool ’75?« fragte ich.
»Ja«, antwortete Tamworth zögernd. »Sie
Weitere Kostenlose Bücher