01_Der Fall Jane Eyre
Vorwand für einen Krieg. Bei welcher Temperatur
schmilzt Beryllium?«
»180,57 Grad Celsius«, antwortete Polly wie aus der Pistole
geschossen. »Ich glaube, Joffy leistet hervorragende Arbeit. Du mußt
ihn unbedingt mal anrufen, Thursday.«
»Mal sehen.« Joffy und ich hatten uns nie besonders nahegestanden.
Fünfzehn Jahre lang hatte er mich nur »du Pflaume« genannt und mir
einmal täglich auf den Hinterkopf geschlagen. Er hörte erst damit auf,
als ich ihm die Nase brach.
»Apropos anrufen, was hältst du davon, wenn du …«
»Mutter!«
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»Wie man hört, ist er inzwischen recht erfolgreich, Thursday. Es
könnte dir gut tun, ihn wiederzusehen.«
»Das mit Landen und mir ist endgültig vorbei, Mutter. Außerdem
habe ich einen Freund.«
Das hörte meine Mutter ausgesprochen gern. Es hatte ihr
beträchtlichen Kummer bereitet, daß ich mich nicht mit
geschwollenen Knöcheln, Hämorrhoiden und Rückenschmerzen
herumquälte, am laufenden Band Enkel produzierte und sie nach
obskuren Verwandten benannte. Da Joffy nicht der Typ war, der
Kinder in die Welt setzte, ruhten alle Hoffnungen auf mir. Ehrlich
gesagt, hatte ich gar nichts gegen Kinder, solange ich sie nicht selbst
kriegen mußte. Und Landen war der letzte Mann gewesen, der für
mich als Lebensgefährte auch nur ansatzweise in Frage kam.
»Einen Freund? Wie heißt er?«
Ich nahm den erstbesten Namen, der mir in den Sinn kam.
»Snood. Filbert Snood.«
»Schöner Name.« Mutter lächelte.
»Blöder Name«, murrte Mycroft. »Genau wie Landen Parke-Laine,
wenn du mich fragst. Darf ich aufstehen? Jetzt kommt Für alle Fälle
Spratt .«
Polly und Mycroft standen auf und ließen uns allein. Die Namen
Landen und Anton fielen nicht noch einmal. Meine Mutter bot mir
mein altes Zimmer an. Ich lehnte dankend ab. Wir hatten uns
schrecklich gestritten, als ich noch zu Hause gewohnt hatte.
Außerdem war ich fast sechsunddreißig. Ich trank meinen Kaffee aus
und ließ mich von meiner Mutter zur Haustür bringen.
»Sag mir Bescheid, wenn du es dir anders überlegst, Schätzchen«,
sagte sie. »Dein Zimmer ist noch genau wie früher.«
Wenn das stimmte, waren die Wände noch immer mit den
grauenhaften Postern meiner Teenageridole gepflastert. Schon bei
dem Gedanken wurde mir ganz anders.
- 115 -
10.
Hotel Finis, Swindon
Die Miltons waren die mit Abstand glühendsten DichterVerehrer. Ein Blick ins Londoner Telefonbuch ergab gut
viertausend John Miltons, zweitausend William Blakes,
ein knappes Tausend Samuel Coleridges, fünfhundert
Shelleys, dieselbe Anzahl von Wordsworths und Keats’
sowie eine Handvoll Drydens. Diese Flut von
Namensänderungen führte zwangsläufig zu Problemen
bei der Strafverfolgung. Nach einem Zwischenfall in
einem Pub, bei dem sowohl der Angreifer, das Opfer, der
Zeuge, der Wirt, der festnehmende Polizeibeamte als
auch der Richter Alfred Tennyson hießen, war ein Gesetz
verabschiedet worden, das sämtliche Namensvettern und
-schwestern verpflichtete, sich eine Kennnummer hinters
Ohr tätowieren zu lassen. Wie so viele praktische
polizeiliche Maßnahmen stieß es auf wenig Gegenliebe.
MILLON DE FLOSS
- Eine kurze Geschichte des Special Operations Network
Ich quetschte mich in eine Parklücke vor dem großen, angestrahlten
Gebäude, stieg aus und schloß den Wagen ab. Im Hotel herrschte
anscheinend Hochbetrieb, und als ich durch die Tür trat, sah ich auch,
warum. Mindestens zwei Dutzend Männer und Frauen in
Kniebundhosen und weiten, weißen Hemdblusen liefen in der Lobby
herum. Meine Laune war dahin. Ein großes Schild an der Treppe hieß
alle Teilnehmer der 112. Jahresversammlung der John-MiltonGesellschaft willkommen. Ich holte tief Luft und kämpfte mich zur
Rezeption durch. Eine nicht mehr ganz junge Empfangsdame mit
überdimensionalen Ohrgehängen schenkte mir ihr bezaubernstes
Begrüßungslächeln.
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»Guten Abend, Ma’am, willkommen im Finis, dem Nonplusultra in
Sachen Eleganz und Stil. Wir sind ein Vier-Sterne-Hotel mit
modernster Ausstattung und zahlreichen Serviceleistungen. Es ist uns
ein aufrichtiges Anliegen, Ihnen Ihren Aufenthalt so angenehm wie
möglich zu gestalten.«
Sie leierte den Text herunter wie ein Mantra. Ich hätte sie mir
ebensogut hinter einer SmileyBurger-Theke vorstellen können.
»Mein Name ist Next. Ich hatte reserviert.«
Die Empfangsdame nickte und ging die Reservierungskarten durch.
»Mal sehen. Milton, Milton, Milton,
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