01_Der Fall Jane Eyre
hatte
volles weißes Haar und mächtige Koteletten. Er trug einen eleganten
Tweedanzug und Seidenfliege. Ein Paar brauner Handschuhe klemmte
zwischen seinen Fingern, die den Knauf eines Spazierstocks
umfaßten, und auf dem Platz neben ihm lag eine Jagdmütze. Sein
Gesicht war stark gerötet, und als ich an den Tisch trat, warf er den
Kopf in den Nacken und lachte bellend wie ein Seehund über eine
Bemerkung seines Begleiters.
Der Mann ihm gegenüber war um die dreißig. Er hockte auf der
Sitzkante und wirkte leicht nervös. Er nippte an einem Glas Tonic und
trug einen teuren Nadelstreifenanzug, der aber schon bessere Tage
gesehen hatte. Ich wußte, daß ich ihm schon mal irgendwo begegnet
war, ich wußte nur nicht, wo.
»Die Herren suchen mich?«
Die beiden standen auf. Der ältere sprach zuerst. »Miss Next? Sehr
erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Analogy.
Victor Analogy. Leiter der Swindoner LitAg-Abteilung. Wir haben
telefoniert.«
Er streckte die Hand aus, und ich schüttelte sie.
»Nett, Sie kennenzulernen, Sir.«
»Das ist Agent Bowden Cable. Sie beide werden
zusammenarbeiten.«
»Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madam«,
sagte Bowden verlegen. Er war ziemlich unbeholfen und wirkte sehr
steif. Der Blick, den er mir zuwarf, sprach Bände. Er schien lange
keine Frau mehr als Kollegin gehabt zu haben.
»Haben wir uns nicht schon mal gesehen?« fragte ich und schüttelte
ihm die Hand.
»Nein«, antwortete Bowden nachdrücklich. »Daran würde ich mich
bestimmt erinnern.«
- 120 -
Victor deutete auf den Platz neben Bowden, der Höflichkeiten vor
sich hin murmelnd zur Seite rückte. Ich nippte an meinem Drink. Er
schmeckte wie alte, in Urin eingeweichte Pferdedecken. Ich bekam
einen Hustenanfall. Bowden hielt mir ritterlich sein Taschentuch hin.
»Vorpal’s Special?« sagte Victor mit hochgezogener Augenbraue.
»Tapferes Mädchen.«
»D-danke.«
»Willkommen in Swindon«, fuhr Victor fort. »Zunächst einmal
möchte ich Ihnen sagen, wie sehr wir Ihr kleines Malheur bedauern.
Nach allem, was man hört, muß Hades ja ein regelrechtes Ungeheuer
gewesen sein. Um ihn ist es nicht schade. Ich hoffe, Sie haben sich
einigermaßen erholt?«
»Ich schon, andere hatten da weniger Glück.«
»Das tut mir sehr leid, aber Sie sind hier hoch willkommen. Es ist
das erste Mal, daß sich jemand von Ihrem Kaliber in die Provinz
verirrt.«
Ich sah Analogy fragend an. »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz,
worauf Sie hinauswollen.«
»Ich wollte damit sagen – und das ist nun weiß Gott kein Geheimnis
–, daß es sich bei unseren Mitarbeitern eher um Akademiker als um
typische SpecOps-Agenten handelt. Ihr Vorgänger war Jim Crometty.
Er wurde in der Altstadt bei einem mißlungenen Buchkauf erschossen.
Er war Bowdens Partner. Jim war uns allen ein ganz besonderer
Freund; er hatte eine Frau, drei Kinder. Ich möchte … nein, ich muß
die Person fassen, die uns Crometty genommen hat.«
Ich starrte verwirrt in ihre ernsten Gesichter, bis der Groschen
endlich fiel. Sie hielten mich für eine waschechte SO-5-Agentin auf
Heimaturlaub. So etwas war durchaus nicht ungewöhnlich. Bei SO-27
hatten wir ständig ausgemusterte SO-9-und SO-7-Leute zugeteilt
bekommen. Sie waren ausnahmslos verrückt gewesen.
»Sie haben meine Akte gelesen?« fragte ich vorsichtig.
»Die haben sie nicht herausgerückt«, sagte Analogy. »Es kommt
nicht allzu häufig vor, daß sich ein Agent aus den schwindelnden
- 121 -
Höhen von SpecOps-5 zu unserem kleinen Verein versetzen läßt. Wir
brauchten einen kampferprobten Ersatz, der in der Lage ist … tja, wie
soll ich sagen …?«
Analogy verstummte, um Worte verlegen. Bowden antwortete statt
seiner.
»Wir brauchen jemanden, der im Notfall nicht vor extremer
Gewaltanwendung zurückschreckt.«
Ich sah sie an und überlegte, ob ich ihnen nicht lieber reinen Wein
einschenken sollte; schließlich hatte ich in letzter Zeit lediglich auf
mein eigenes Auto sowie auf einen offensichtlich unverwundbaren
Meisterverbrecher geschossen. Offiziell gehörte ich SO-27 an, nicht
SO-5. Aber da es gut möglich war, daß Acheron noch lebte, und ich
nach wie vor auf Rache sann, war es vielleicht gar nicht so schlecht,
wenn ich mitspielte.
Analogy rutschte nervös herum. »Im Fall Crometty ermittelt
selbstverständlich die Mordkommission. Inoffiziell können wir also
nicht sehr viel unternehmen, aber SpecOps hält sich
Weitere Kostenlose Bücher