01_Der Fall Jane Eyre
Stehkragen.
Hobbes war ziemlich außer Atem und sank keuchend in den erstbesten
Sessel. Der Mann in mittleren Jahren blickte hilfesuchend um sich.
»Meine Freunde«, begann er und schaute in ihre neugierigen
Gesichter, »Sie sehen mich ratlos und verwirrt. Wenn Sie die
Freundlichkeit besäßen, mir zu erklären, was Sie dazu bewegen hat,
mich in diese mißliche Lage zu versetzen …«
Acheron trat neben ihn und legte ihm freundschaftlich einen Arm
um die Schultern.
»Ah, der süße, süße Duft des Erfolges. Willkommen im zwanzigsten
Jahrhundert und in der Wirklichkeit. Mein Name ist Hades.«
Acheron streckte die Hand aus. Der Mann verbeugte sich und
schüttelte sie dankbar, weil er sich irrtümlich unter wohlmeinenden
Mitbürgern wähnte.
»Zu Diensten, Mr. Hades. Mein Name ist Quaverley, wohnhaft bei
Mrs. Todger und Prokurator von Beruf. Ich muß gestehen, daß ich
nicht die geringste Ahnung habe, wie mir ein so großes Wunder zuteil
werden konnte, aber bitte sagen Sie mir doch – denn wie ich sehe,
sind Sie der Gebieter über dieses höchst erstaunliche Paradoxon –,
was geschehen ist und wie ich Ihnen behilflich sein kann.«
Acheron lächelte und klopfte Mr. Quaverley brüderlich auf die
Schulter.
»Mein lieber Mr. Quaverley! Ich könnte ohne Zweifel viele
glückliche Stunden damit zubringen, mich mit Ihnen über das Wesen
der Dickensschen Erzählkunst zu unterhalten, aber das wäre eine
unverzeihliche Verschwendung meiner äußerst kostbaren Zeit. Felix7,
- 173 -
fahren Sie nach Swindon und sorgen Sie dafür, daß Mr. Quaverleys
Leiche spätestens bei Morgengrauen von spielenden Kindern entdeckt
wird.«
Felix7 packte Mr. Quaverley am Arm.
»Jawohl, Sir.«
»Ach, und Felix7 …«
»Ja, Sir?«
»Wo Sie schon mal dabei sind, könnten Sie doch eigentlich auch
gleich diesen Sturmey Archer zum Schweigen bringen. Er hat seine
Schuldigkeit getan.«
Felix7 schleifte Mr. Quaverley zur Tür hinaus. Mycroft weinte.
- 174 -
16.
Sturmey Archer & Felix7
… Ein wahrhaft verbrecherischer Geist braucht ebenso
außergewöhnliche Komplizen, die ihm zur Seite stehen.
Sonst hat das Ganze wenig Sinn. Ich habe immer wieder
festgestellt, daß ich meine abscheulichsten Pläne ohne die
Beteiligung und die Anerkennung meiner Mitarbeiter
niemals umsetzen könnte. So bin ich nun einmal. Sehr
großzügig …
ACHERON HADES
- Die Lust am Laster
»Wen besuchen wir eigentlich?«
»Einen gewissen Sturmey Archer«, antwortete Bowden, während
ich den Wagen am Straßenrand abstellte, gegenüber einer kleinen
Fabrik, hinter deren Fenstern ein sanftes Licht leuchtete.
»Vor ein paar Jahren hatten Crometty und ich das große Glück,
mehrere Mitglieder einer Bande festzunehmen, die versucht hatte, eine
ziemlich primitiv gefälschte Fortsetzung von Coleridges Ancient
Mariner unter die Leute zu bringen. Sie trug den Titel ›Der Alte
Matrose – Die Rückkehr‹, aber niemand fiel darauf herein. Sturmey
sagte als Kronzeuge aus und entging so einer Gefängnisstrafe. Ich
habe noch etwas gegen ihn in der Hand, im Zusammenhang mit einem
Cardenio-Schwindel. Ich würde es allerdings nur äußerst ungern
gegen ihn verwenden.«
»Und was hat er mit Cromettys Tod zu tun?«
»Nichts«, lautete seine lapidare Antwort. »Er ist lediglich der
nächste auf unserer Liste.«
- 175 -
Wir überquerten die Straße. Es wurde langsam dunkel; die
Straßenlaternen gingen an, und erste Sterne erschienen am Himmel. In
einer halben Stunde würde es Nacht sein.
Bowden wollte erst klopfen, ließ es dann aber doch bleiben. Lautlos
machte er die Tür auf, und wir schlüpften hindurch.
Sturmey Archer war ein schmächtiger Bursche, der so viele Jahre in
Anstalten verbracht hatte, daß er allein nur schwer zurechtkam. Ohne
festen Stundenplan wusch er sich weder regelmäßig, noch ernährte er
sich richtig. Er trug eine dicke Brille, bunt zusammengewürfelte
Kleider, und sein Gesicht war eine Mondlandschaft von Akne-Narben.
Inzwischen bestritt er seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit der
Produktion von Gipsbüsten berühmter Schriftsteller, doch seine
kriminelle Vergangenheit ließ ihn nicht los. Immer wieder wurde er
von anderen Verbrechern dazu erpreßt, ihnen zu helfen, und Sturmey,
ein ohnehin eher willensschwacher Charakter, konnte sich ihrer nur
schwer erwehren. Was Wunder, daß er nur zwanzig seiner
sechsundvierzig Lebensjahre in Freiheit verbracht hatte.
In dem alten Fabriksaal, in dem er
Weitere Kostenlose Bücher