01_Der Fall Jane Eyre
und
Snood hatte Mist gebaut, weil er es wider besseres Wissen mit einem
Feind aufgenommen hatte, dem er weder physisch noch psychisch
gewachsen war. Der Jagdfieber hatte uns gepackt; eine unüberlegte
Handlung, wie auch Anton sie begangen hätte. Es war ein Gefühl wie
damals auf der Krim, und wie damals haßte ich mich dafür.
Gegen ein Uhr morgens war ich wieder im Finis. Das John-MiltonWochenende klang mit einer Disco aus. Als ich in den Fahrstuhl stieg
und auf mein Zimmer fuhr, verwandelte sich der Beat in ein
angenehm dumpfes Wummern. Ich lehnte mich gegen den Spiegel in
der Kabine; das kühle Glas war eine Wohltat. Ich hätte niemals nach
Swindon zurückkommen dürfen, soviel stand fest. Ich würde gleich
morgen früh mit Victor sprechen und mich dann möglichst rasch
versetzen lassen.
Ich schloß die Zimmertür auf, zog die Schuhe aus und legte mich
aufs Bett. Ich starrte an die styroporgeflieste Decke und versuchte,
mich damit abzufinden, was ich zwar immer schon vermutet hatte,
aber nie hatte wahrhaben wollen: Mein Bruder hatte Scheiße gebaut.
So einfach war das, auch wenn im Abschlußbericht des Tribunals von
»taktischen Fehlern im Eifer des Gefechts« und »menschlichem
Versagen« die Rede war. »Scheiße gebaut« klang plausibler; wir alle
machen ab und zu Fehler, der eine mehr, der andere weniger. Doch
nur wenn so ein Fehler Menschenleben kostet, wird er auch bemerkt.
Wäre Anton Bäcker gewesen und hätte die Hefe vergessen, wäre das
kaum der Rede wert gewesen. Mist gebaut hätte er trotzdem.
Während ich so dalag und vor mich hin grübelte, übermannte mich
der Schlaf, und mit dem Schlaf kamen die bösen Träume. Ich war
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wieder in Styx’ Haus, nur stand ich diesmal am Hintereingang, neben
mir der umgestürzte Wagen, Commander Flanker und der Rest der
Untersuchungskommission. Auch Snood war da. Er hatte ein
häßliches Loch in der Stirn und sah mich an, als warte er darauf, daß
Flanker ihm sein Recht verschaffte.
»Sind Sie sicher , daß Sie Snood nicht angewiesen hatten, den
Hintereingang zu bewachen?« wollte Flanker wissen.
»Hundertprozentig«, sagte ich und blickte von einem zum anderen.
»Gar nicht wahr«, sagte Acheron im Vorbeigehen. »Ich hab’s
gehört.«
Flanker hielt ihn an. »Wirklich? Und was genau hat sie gesagt?«
Acheron bedachte mich mit einem Lächeln und nickte Snood
freundlich zu.
»Haiti« fuhr ich dazwischen. »Wie können Sie ihm auch nur ein
Wort glauben? Der Mann ist ein Lügner!«
Acheron schaute beleidigt drein, und Flanker drehte sich um und
musterte mich mit stählernem Blick.
»Mit dieser Meinung stehen Sie ziemlich allein, Agent Next.«
Ich kochte innerlich vor Wut über diese schreiende Ungerechtigkeit.
Ich wollte eben losheulen und aufwachen, als mir jemand auf den Arm
tippte. Es war ein Mann im schwarzen Gehrock. Er hatte dichtes
schwarzes Haar, das ihm in dicken Strähnen in sein
scharfgeschnittenes, strenges Gesicht fiel. Ich wußte sofort, wen ich
vor mir hatte.
»Mr. Rochester?«
Er nickte. Doch nun standen wir nicht mehr vor den alten
Lagerhäusern im East End; wir befanden uns in einem großen,
geschmackvoll möblierten Zimmer, das von trübschimmernden
Öllampen und dem Flackerschein eines prasselnden Kaminfeuers
erhellt wurde.
»Wie geht es Ihrem Arm, Miss Next?«
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»Danke, sehr gut«, sagte ich und wackelte wie zum Beweis mit den
Fingern.
»Ich an Ihrer Stelle würde mir wegen dieser Herren keine Sorgen
machen«, sagte er und deutete auf Flanker, Acheron und Snood, die in
der Ecke neben dem Bücherregal standen und debattierten. »Sie
existieren lediglich als Trugbilder in Ihrem Traum und spielen daher
keine Rolle. «
»Und Sie?«
Rochester lächelte, ein schroffes, gezwungenes Lächeln. Er lehnte
sich gegen den Kaminsims und starrte in sein Glas, ließ den Madeira
leise kreisen.
»Ich bin niemals echt gewesen.«
Er stellte das Glas auf den Marmorsims, zückte eine große, silberne
Taschenuhr, klappte sie auf, sah auf das Zifferblatt und ließ sie wieder
in seiner Westentasche verschwinden, alles in einer einzigen
fließenden Bewegung. »Die Lage spitzt sich zu, das sagt mir mein
Gefühl. Ich hoffe, ich kann auf Ihre Seelenstärke rechnen, wenn es
soweit ist?«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich weiß nicht, wie ich
hierhergelangt bin, ja nicht einmal, wie Sie zu mir gekommen sind.
Erinnern Sie sich, wie Sie mir an jenem
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