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01_Der Fall Jane Eyre

01_Der Fall Jane Eyre

Titel: 01_Der Fall Jane Eyre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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mußte. Im Innern war es feucht und roch nach
    Formaldehyd. Die Angestellten wirkten blaß und schlichen wie Untote
    durch die Gänge des kleinen Gebäudes. Ein alter Witz besagte, in
    diesen Hallen hätten bloß die Leichen ein bißchen Charisma. Das
    leuchtete ein, besonders wenn man den Chefpathologen Mr.
    Rumplunkett kannte. Er war ein melancholischer Bursche mit
    mächtigen Hängebacken und buschigen Brauen. Ich fand ihn und
    Victor in der Pathologie.
    Mr. Rumplunkett nahm mein Eintreten gar nicht zur Kenntnis,
    sondern sprach einfach weiter in ein Mikrofon, das von der Decke
    hing; seine monotone Stimme erfüllte den gekachelten Raum mit
    einem konstanten Summen. Angeblich waren die Stenotypistinnen,
    die seine Berichte abtippen mußten, dabei schon oft eingenickt; kein
    Wunder, denn auch er selbst war schon zweimal eingeschlafen, als er
    seine Rede für das alljährliche Galadiner der Forensiker hielt.
    »Vor mir liegt ein männlicher Europäer um die vierzig mit grauem
    Haar und schlechten Zähnen. Er ist ungefähr ein Meter siebzig groß
    und trägt Kleidung, die ich als viktorianisch bezeichnen würde …«

    - 218 -
    Außer Bowden und Victor waren auch die beiden Kollegen vom
    Morddezernat zugegen, die uns am Abend zuvor vernommen hatten.
    Sie wirkten gelangweilt und starrten die LitAg-Abordnung
    mißtrauisch an.
    »Morgen, Thursday«, sagte Victor vergnügt. »Erinnern Sie sich
    noch an den Studebaker von Archers Mörder?«
    Ich nickte.
    »Tja, unsere Freunde vom Morddezernat haben die Leiche hier im
    Kofferraum des Studebakers gefunden.«
    »Ist sie schon identifiziert?«
    »Noch nicht. Aber sehen Sie sich mal das an.«
    Er deutete auf eine Schale aus Edelstahl mit den Habseligkeiten des
    Toten. Ich sah sie mir genauer an: ein halber Bleistift, eine unbezahlte
    Rechnung über das Stärken mehrerer Kragen und ein Brief von seiner
    Mutter, datiert vom 5. Juni 1843.
    »Können wir unter vier Augen miteinander sprechen?« fragte ich.
    Victor begleitete mich auf den Flur.
    »Das ist Mr. Quaverley«, erklärte ich.
    »Wer?«
    Ich wiederholte, was ich von Dr. Spoon erfahren hatte. Victor schien
    nicht im mindesten erstaunt.
    »Ich habe mir schon gedacht, daß er aus einem Buch stammt«, sagte
    er schließlich.
    »Wollen Sie damit sagen, daß so etwas schon mal vorgekommen
    ist?«
    »Haben Sie Der Widerspenstigen Zähmung gelesen?«
    »Logisch.«
    »Na, dann erinnern Sie sich doch bestimmt auch an den betrunkenen
    Kesselflicker im Vorspiel, dem sie vorgaukeln, er sei der Lord, für den
    sie das Stück aufführen?«

    - 219 -
    »Aber sicher«, antwortete ich. »Er hieß Christopher Sly. Er hat ein
    paar Zeilen Text am Ende des ersten Aktes, und danach verschwindet
    er auf Nimmerwiedersehen …«
    Ich verstummte.
    »Genau«, sagte Victor. »Vor sechs Jahren wurde bei Warwick ein
    orientierungslos herumirrender, ungebildeter Säufer aufgegriffen, der
    nur elisabethanisches Englisch sprach. Er gab sich als Christopher Sly
    aus, verlangte einen Drink und wollte wissen, wie das Stück denn
    ausgegangen sei. Ich konnte ihn eine halbe Stunde verhören, und in
    dieser Zeit hat er mich davon überzeugt, daß er die Wahrheit sagte –
    trotzdem war ihm nicht beizubringen, daß er nicht mehr in seinem
    Stück war.«
    »Was ist aus ihm geworden?«
    »Das weiß niemand. Kurz nachdem ich mit ihm gesprochen hatte,
    wurde er von zwei anonymen Agenten verhört. Ich habe noch
    versucht herauszufinden, was danach geschah, aber Sie wissen ja, wie
    verschwiegen SpecOps manchmal ist.«
    Ich dachte an mein Kindheitserlebnis in Haworth.
    »Und umgekehrt?«
    Victor sah mich scharf an.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Haben Sie schon mal davon gehört, daß jemand dasselbe in der
    anderen Richtung versucht hätte?«
    Victor blickte zu Boden und rieb sich die Nase. »Das ist aber
    ziemlich radikal, Thursday.«
    »Aber Sie halten es grundsätzlich für möglich?«
    »Behalten Sie das bitte für sich, Thursday, aber ich glaube schon.
    Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind keineswegs so fest,
    wie es scheint. Sie sind so ähnlich wie ein zugefrorener See. Hunderte
    von Menschen können gefahrlos darübergehen, bis sich eines Abends
    eine dünne Stelle bildet und jemand durchbricht; am nächsten Morgen

    - 220 -
    ist das Loch wieder zugefroren. Haben Sie Dickens’ Dombey und
    Sohn gelesen?«
    »Logisch.«
    »Erinnern Sie sich noch an Mr. Glubb?«
    »Den Fischer aus Brighton?«
    »Genau. Dombey wurde 1848 vollendet und 1851

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