01_Der Fall Jane Eyre
erschossen
habt, doch noch identifizieren können. Er hatte keine Fingerabdrücke,
und was sein Gesicht betrifft, lagen Sie mit Ihrer Vermutung
goldrichtig, Thursday – es war nicht sein eigenes.«
»Und wer war er?«
Victor klappte die Akte auf. »Ein Buchhalter aus Newbury namens
Adrian Smarts. Er ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden. Keine
Vorstrafen, nicht mal ein Strafmandat wegen zu schnellen Fahrens.
Netter Kerl. Familienvater, Kirchgänger und engagiertes
Gemeindemitglied.«
»Hades hat ihm seinen Willen gestohlen«, murmelte ich. »Die
reinsten Seelen lassen sich am leichtesten mißbrauchen. Als wir ihn
erschossen haben, war von Smarts nicht mehr viel übrig. Was ist mit
dem Gesicht?«
»Daran arbeiten wir noch. Die Identifizierung könnte sich als
weitaus schwieriger erweisen. Laut kriminaltechnischer Untersuchung
war Smarts nicht der einzige, der dieses Gesicht getragen hat.«
Ich schrak zusammen.
»Und er muß noch lange nicht der letzte gewesen sein.«
Victor erriet meine Gedanken, griff zum Telefon und wählte Hicks’
Nummer. Binnen zwanzig Minuten hatte ein SO-14-Kommando das
Bestattungsunternehmen umstellt, wo Smarts’ Leichnam seiner
Familie übergeben worden war. Doch die Kollegen kamen zu spät.
Das Gesicht, das Smarts zwei Jahre lang getragen hatte, war schon
verschwunden, und die Überwachungskameras hatten, wie zu
erwarten war, nichts aufgezeichnet.
Die Nachricht von Landens bevorstehender Hochzeit hatte mich
ziemlich getroffen. Später fand ich heraus, daß er Daisy Mutlar ein
gutes Jahr zuvor bei einer Signierstunde kennengelernt hatte. Sie war
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allem Anschein nach sexy und hübsch, aber mit Sicherheit etwas
übergewichtig. Und ein großes Licht war sie wohl auch nicht,
zumindest redete ich mir das ein. Landen hatte sich immer schon eine
Familie gewünscht, und die hatte er natürlich auch verdient.
Um meine Enttäuschung zu überwinden, reagierte ich neuerdings
sogar positiv auf Bowdens schüchterne Versuche, mich zum Essen
einzuladen. Doch außer einem gewissen Interesse an der Frage, wer
denn nun wirklich hinter Shakespeares Stücken steckte, hatten wir
nicht viel gemeinsam. Auch jetzt saß er wieder an seinem Schreibtisch
und starrte auf ein Stück Papier mit einer umstrittenen Unterschrift.
Das Papier war echt, die Tinte auch. Der Namenszug aber nicht.
Vielleicht mußte ich ihn ein bißchen ermutigen?
»Äh«, sagte ich, »warum erzählen Sie mir nicht ein bißchen von
Edward De Vere, dem Earl of Oxford?«
Bowden stierte eine Weile nachdenklich vor sich hin.
»Der Earl of Oxford war Schriftsteller, soviel steht fest. Meres, ein
Kritiker und Zeitgenosse De Veres, erwähnt ihn in seiner Palladis
Tamia von 1598.«
»Könnte er die Stücke geschrieben haben?« fragte ich.
»Er könnte durchaus«, antwortete Bowden. »Das Dumme ist nur,
daß Meres auch zahlreiche Shakespeare-Stücke aufzählt und
ausdrücklich Shakespeare zuschreibt. Womit Oxford, wie Derby oder
Bacon, in die Kategorie der Strohmann-Theorie fällt, derzufolge Will
als Fassade für andere herhalten mußte.«
»Ist das denn so abwegig?«
»Vermutlich nicht. Die Weiße Königin glaubte schon vor dem
Frühstück jede Menge unmögliche Dinge, und das hat ihr auch nicht
geschadet. Die Strohmann-Theorie klingt durchaus plausibel , aber es
spricht noch einiges mehr dafür, daß Oxford hinter Shakespeare
steckt.«
Wir schwiegen. Manche Leute nahmen die Frage nach der
Urheberschaft der Stücke äußerst ernst, und viele kluge Köpfe hatten
sich ein Leben lang damit beschäftigt.
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»Die Theorie besagt, daß Oxford und eine Gruppe von Höflingen
am Hofe Königin Elizabeths einzig zu dem Zweck in Diensten
standen, staatstragende Stücke zu verfassen. Und da scheint
tatsächlich etwas dran zu sein.«
Er schlug ein Buch auf und las eine unterstrichene Stelle. »Ein
Collegium höfischer Poeten, lauter Adels-und Edelleute, welche
ausdermaßen trefflich zu schreiben vermögen, wie es sich wohl
erzeigte, würde ihr Treiben offenbart und kundgetan, dem zuvorsteht
ein Edelmann, der Earl of Oxford.«
Er klappte das Buch wieder zu.
»Puttenham 1598. Oxford erhielt eine jährliche Zuwendung in Höhe
von tausend Pfund, auch wenn sich heute leider nicht mehr
nachvollziehen läßt, ob dieses Geld nun für die eigentliche Abfassung
der Stücke oder vielleicht doch für ein ganz anderes Projekt bestimmt
war. Es gibt keinen gesicherten Beleg dafür, daß
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