01 - Ekstase der Liebe
im Publikum wusste, dass ihr Blick immer wieder nach rechts
wanderte.
Langsam
zog die Geschichte über einen alten König sie in den Bann, der närrisch
geworden war und von seinen Töchtern verlangte zu schwören, dass sie ihn mehr
als alle und alles andere auf der Welt liebten, oder sie würden kein Geld, kein
Land, keinen Anteil am Königreich erben. Sie schenkte den beiden Schwestern,
die hysterisch kreischten, niemals jemand anderen als ihren Vater zu lieben,
obwohl ihre Ehemänner direkt neben ihnen standen, wenig Aufmerksamkeit. So war
das Leben, zumindest das Leben in London. Für Geld würden die Leute alles tun.
Man nehme nur Will. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte sie ihn aus der Loge eines
Kaufmanns zu sich gerufen. Charlottes Blick wanderte zu dieser Loge. Eine junge
Frau saß vorn und starrte auf die Bühne. Von ihrem Sitz aus, der über dem der
Kaufmannstochter lag, konnte Charlotte sehen, dass ihre Hände auf ihrem Schoß
zu Fäusten geballt waren. Einen Augenblick lang betrachtete sie ihr Profil,
aber dann wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne gelenkt.
Die
jüngste Tochter des Königs stolzierte umher und weigerte sich, ihrem Vater zu
antworten. Oder sagte sie etwas, was ihm nicht gefiel? Charlotte begann
zuzuhören, wobei ihre Ohren sich zunächst den alten musikalischen Versen
verweigerten. Dann gewöhnte sie sich daran und die Worte wurden leicht
verständlich. Das Publikum wurde ruhiger und lauschte aufmerksam. Als der erste
Akt endete und eine dralle spanische Sängerin begann, von Kirschen und Zitronen
zu singen, war es einen Moment lang still, bevor sich das Stimmengewirr in den
Rängen erhob.
Charlotte
sah wieder in die Loge unter sich. Irgendetwas an dem Gesicht der Tochter gefiel
ihr.
»Will«,
sagte sie leise und wandte sich zu ihm. Sie schenkte ihm ihr bezauberndstes
Lächeln. Will wurde sichtbar weicher. Wirklich, dachte Charlotte, Männer sind
solche Trottel. »Warum fragen Sie Ihre Freundin nicht, ob sie sich zu uns
gesellen möchte?« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Frau in der
Loge. »Es muss dort unten doch sehr unbehaglich sein so allein, nur in
Gesellschaft der Eltern.«
Will
wurde plötzlich kalt ums Herz. Er wollte nicht, dass man über Chloe lachte oder
dass sich erfahrene Frauen der Gesellschaft über sie auf eine Art lustig
machten, die sie nicht verstand. Er presste die Lippen zusammen. Charlotte
legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich würde sie wirklich sehr gern kennen
lernen, Will.«
Will
sah ihr mit seinen blauen Augen in die ihren und entspannte sich. Er hatte noch
nie gehört, dass Charlotte Daicheston sich schäbig oder gemein verhalten hatte
... also warum nicht? Er erhob sich und tauchte eine Minute später in der Loge
der van Storks wieder auf. Chloes Eltern machten ihm höflich den Weg frei,
obwohl er wusste, dass sie innerlich wegen des Affronts kochen mussten, den er
an ihrer Tochter begangen hatte, indem er in die Loge einer anderen Frau
gegangen war.
Er
hockte sich neben Chloes Stuhl nieder. »Würde es Ihnen gefallen, den
Brandenburgs Gesellschaft zu leisten?«
Chloe
sah ihn erstaunt an. Ihre Augen sind blau, dachte er, so blau wie meine.
»Warum?«, frage sie unverblümt.
Will
fand keine gute Lüge. »Lady Charlotte hat darum gebeten.«
Chloes
Gesicht verfinsterte sich. »Es ist nicht, wie Sie denken«, sagte Will
eindringlich. »Charlotte ist nicht so.«
Chloe
sah auf ihre Hände, die unabsichtlich den schwarzen Köper zerknüllten, aus dem
all ihre Kleider genäht waren, weil ihre Mutter darauf bestand. Wie sollte sie
zu dieser Loge hinaufgehen und sich zu dieser wunderschönen Frau setzen, die er
so sorglos Charlotte nannte? Sie sehnte sich nach ihrem Zuhause, wo sie
vielleicht eine Zahlenreihe für ihren Vater ausrechnen oder ihrer Mutter dabei
zusehen konnte, wie sie Hemden für die Armen in Kisten packte.
Ihre
Mutter beugte sich vor. »Liebste, wir sind einverstanden«, sagte sie mit
niederländischem Akzent. Chloe erhob sich. Sie hatte kaum eine Wahl, wenn ihre
eigene Mutter bereit war, sie dem Spott eines Haufens ... eines Haufens Pfauen
preiszugeben! Tränen brannten in ihren Augen, als sie ruhig die Loge verließ
und den roten Teppich entlangschritt. Zahlreiche Menschen wanderten, vom ersten
Akt erschlagen, den Gang auf und ab und warteten sehnlichst auf die Pause.
Chloe hielt den Kopf gesenkt, weil sie sicher war, dass alle sie anstarrten.
Als sie
auf dem Treppenabsatz angelangt waren, stieß Will eine Tür
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