01 - Ekstase der Liebe
Sechs
oder
sieben Frauen, einige davon eindeutig Dienstboten, saßen um einen großen Tisch
und nähten. Charlottes Mutter erhob
sich
und kam auf sie zu. Sie war eine überraschend große Frau mit einem sehr
gewinnenden Lächeln, die Chloes Hand nahm und sich nach ihren Eltern
erkundigte. Dann bat sie sie, sie zu entschuldigen.
»Wir
sind gerade dabei, einen Satz von zwanzig Jungenhemden fertig zu stellen, die
dringend im Bellview-Waisenhaus gebraucht werden«, sagte sie
entschuldigend. »Sonst würde ich Sie in Charlottes Atelier begleiten. Aber ich
bin sicher, es wird Ihnen gefallen.« Sie lächelte Chloe zerstreut an.
Chloe
erwiderte ihr Lächeln. »Als ich gegangen bin, war meine Mutter auch gerade
dabei, Hemden fertig zu stellen für Erwachsene, nicht für Kinder.«
»Es
nimmt einfach kein Ende«, meinte Charlottes Mutter mit hilfloser Gebärde. »Es
kommt mir vor, als würden wir nähen und nähen, und überall sehe ich Leute, die
nur Lumpen tragen.«
Charlotte
und Chloe machten einen Knicks und gingen am nächsten Stockwerk vorbei die Treppe
weiter nach oben. Dann wurden die Stufen, die in den vierten Stock führten,
schmaler und steiler.
»Dies
ist eigentlich die Etage für die Kinderzimmer«, meinte Charlotte über die
Schulter hinweg. »Aber jetzt gibt es hier natürlich keine Kinder mehr und deswegen
haben meine Eltern aus dem Kinderzimmer mein Atelier gemacht.«
Sie
hielten in der Tür eines großen, weiß gestrichenen Raums inne. Überall an den
Wänden befanden sich Kerzenleuchter, große, kleine, vergoldete, zerbrechlich
aussehende, ein Paar, das mit Muscheln bedeckt war. Chloe stand der Mund offen.
Es gab auch einen scheußlichen großen Kerzenleuchter, der wie die Äste eines
Baumes aussehen sollte, und einen, der wohl aus dem ursprünglichen Kinderzimmer
stammte, denn er stellte Noahs Arche dar, wobei aus einigen der Tierköpfe
Kerzen ragten.
»Oh«,
lachte Charlotte. »Ich habe ganz vergessen, wie seltsam der Raum aussehen muss.
Wissen Sie, ich brauche Licht mehr als alles andere. Deshalb haben wir alle
Kerzenleuchter, die auf dem Dachboden lagen, aufgestellt, und einen der Lakaien
mit dem Auftrag zum Trödelmarkt geschickt, alles, was er finden konnte, zu
kaufen. Und das ist das Ergebnis.«
Chloe
sah sich langsam um. Die Leuchter waren in einem Abstand von einem Fuß an der
Wand befestigt und in jeder Halterung befand sich eine rein weiße Kerze.
»Die
Dienstboten ersetzen die Kerzen jeden Morgen«, fuhr Charlotte fort. »Ich werde
schrecklich wütend, wenn die Kerzen herunterbrennen, weil sich das Licht
ändert, wenn eine ausgeht. Mrs Simpkin - unsere Haushälterin - hat
entschieden, dass die Kerzen zuerst hier aufgestellt werden. Sie werden jeden
Morgen ausgetauscht und kommen dann in die anderen Räume, zum Beispiel in die
Schlafzimmer. London ist wegen des Kohlenstaubs so düster, dass ich nur bis
gegen elf Uhr morgens mit natürlichem Licht malen kann, und oft nicht einmal
das.«
Chloe
nickte. Sie hatte noch nie so viele Wachskerzen in einem Raum gesehen. Ihre
Mutter war keine Pfennigfuchserin, wie sie sagte, aber trotzdem benutzten sie
Wachskerzen sehr sparsam und in allen Schlafzimmer standen Talgkerzen. Sie
betrat langsam den Raum. Vor einer breiten Fensterfront stand eine Staffelei.
Als sie davor stehen blieb, war sie wie gelähmt. Das Bild war eine lachende
Version der jungen Frau, Sophie, die sie am Abend zuvor im Theater kennen
gelernt hatte. Sophie wirkte so lebendig, als würde sie gleich von der
Leinwand springen. Sie sah überhaupt nicht verträumt oder steif aus wie die
Porträts, die jedes Jahr in der Royal Portrait Gallery ausgestellt
wurden.
»Ich
habe es hervorgeholt, damit Sie meine Arbeit sehen können. Gefällt es Ihnen?«
Chloes kleines Gesicht war wie ein Stimmungsbarometer, jedes Gefühl zeichnete
sich deutlich ab. Im Moment sah sie entsetzt aus, aber hoffentlich nicht wegen
des Bildes.
Chloe
wandte hastig den Kopf Charlotte klang doch tatsächlich etwas besorgt! »Es ist
großartig«, erwiderte sie stockend. »Aber ... warum möchten Sie mich
malen? Sie ist so strahlend und ich bin so gewöhnlich.«
»Das
ist natürlich Unsinn«, entgegnete Charlotte. »Sie sind schön, wie Sie
wahrscheinlich selbst wissen. Aber das spielt keine Rolle. Wenn Sie nicht
eingewilligt hätten, hätte ich mir überlegt, Campion, unseren Butler, zu malen.
Ich möchte einen Ausdruck, kein Gesicht. Sehen Sie - als Sophie hier war,
habe
ich versucht, Sophie selbst einzufangen,
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