01 - Gnadenlos
Kelly winkte sie heran und bot ihr einen Stuhl an. Sie sieht älter aus, dachte er.
»Das ist jetzt schon mein dritter Anlauf, John. Die beiden anderen Male hast du geschlafen.«
»Wie so häufig im Augenblick. Mach dir keine Gedanken«, versicherte er ihr. »Sam schaut ein paarmal am Tag zu mir herein.« Schon jetzt fühlte er sich unwohl. Das schwerste war doch immer die Begegnung mit Freunden, sagte sich Kelly.
»Ich hatte soviel im Labor zu tun.« Sarah sprach hastig. »John, ich wollte dir sagen, wie leid es mir tut, daß ich euch gebeten habe, in die Stadt zu kommen. Ich hätte Pam ja auch woandershin schicken können; sie hätte nicht unbedingt zu Madge gehen müssen. Ich kenne nämlich auch einen Mann in Annapolis, einen wirklich guten Arzt... « Ihre Stimme sprudelte weiter.
So viele Selbstvorwürfe, dachte Kelly. »Das war doch nicht deine Schuld, Sarah«, sagte er, als ihr Redestrom versiegte. »Du warst Pam eine gute Freundin. Wenn ihre Mutter so gewesen wäre wie du, vielleicht... «
Es war, als hätte sie ihn nicht gehört. »Oder wenn ich euch einen späteren Termin gegeben hätte. Wenn ihr zu einem anderen Zeitpunkt in die Stadt gekommen wärt... «
In dem Punkt hatte sie recht, dachte Kelly. Zufall, alles nur Zufall. Was wäre, wenn? Wenn er an einer anderen Ecke geparkt hätte? Wenn Billy ihn nie entdeckt hätte? Oder wenn ich mich erst gar nicht von der Stelle gerührt und diesen Schweinehund einfach hätte seiner Wege gehen lassen? Ein anderer Tag, eine andere Woche. Und so viele zusätzliche Kleinigkeiten. Dies alles war nur deshalb geschehen, weil zufällig ein paar hundert Einzelheiten auf ganz bestimmte Weise in der richtigen Reihenfolge zusammengetroffen waren, und während es in der Regel leicht war, die angenehmen Ergebnisse zu akzeptieren, haderte man mit den schlechten. Was wäre gewesen, wenn er vom Lebensmittelmarkt eine andere Richtung eingeschlagen oder wenn er Pam am Straßenrand gar nicht erst entdeckt und mitgenommen hätte? Was, wenn er nicht auf die Pillen gestoßen wäre? Wenn es ihm nichts ausgemacht oder er sie voller Wut rausgeschmissen hätte? Würde sie dann noch leben? Wenn ihr Vater verständnisvoller gewesen wäre, wäre sie nicht weggelaufen, und sie hätten sich nie kennengelernt. Wäre das gut oder schlecht gewesen?
Und wenn dies alles so war, was spielte dann überhaupt noch eine Rolle? Beruhte das ganze Leben denn nur auf Zufällen? Das Problem dabei war, daß sich auch das nicht entscheiden ließ. Für Gott, der alles von oben betrachten konnte, ergab sich vielleicht ein Muster, aber für die mittendrin sah es verdammt nach Zufall aus, dachte Kelly. Man versuchte, sein Bestes zu tun und aus seinen Fehlern zu lernen, um besser gewappnet zu sein, wenn der nächste Zufall eintrat. Aber ergab das einen Sinn? Gab es überhaupt etwas, was Sinn machte? Die Frage war zu kompliziert, als daß der frühere Navy Chief in seinem Krankenhausbett sie hätte beantworten können.
»Sarah, das alles ist nicht deine Schuld. Du hast dein Bestes getan, um ihr zu helfen. Was hättest du daran ändern können?«
»Verdammt noch mal, Kelly, sie war bereits über den Berg!«
»Ich weiß, und ich war es, der sie hergebracht hat und nicht richtig aufgepaßt hat nicht du, Sarah. Mir erzählt jeder, es sei nicht meine Schuld gewesen, und dann kommst du und sagst mir, es sei deine.« Die Grimasse, die er zog, war schon beinahe ein Lächeln. »Das ist alles reichlich rätselhaft; alles, bis auf eins.«
»Es war kein Unfall, nicht wahr?«
»Nein, es war keiner.«
»Da sind sie«, sagte Oreza gelassen, während er sein Fernglas starr auf den Punkt am Horizont gerichtet hielt. »Genau, wie Sie gesagt haben.«
»Komm heim zu Papa«, flüsterte der Polizist in die Dunkelheit.
Also denk dran, es war ein glücklicher Zufall, sagte der Officer zu sich selbst. Die Leute, um die es ging, bauten in Dorchester County Mais an, nur daß bei ihnen zwischen dem Mais auch noch Marihuanapflanzen wuchsen. Einfach, aber praktisch, wie man so sagte. Zu jeder Farm gehörten Scheunen und Wirtschaftsgebäude und vor allem viel Privatsphäre. Diese Leute waren gewitzt und wollten deshalb nicht ihre Ernte auf dem Pritschenwagen über die Bay Bridge transportieren, wo es durch den Urlauberverkehr immer wieder zu unvorhersehbaren Staus kam - abgesehen davon, daß das wachsame Auge eines Mautkassierers der Staatspolizei letzten Monat schon zu einer Festnahme verhelfen hatte. Sie waren so umsichtig, daß sie
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