01 - Nacht der Verzückung
Lily
nicht einmal wusste, dass er in London war.
Er
vermied es, sich auszumalen, wie sie auf diese Neuigkeit reagiert hatte -
oder wie sie reagieren würde, wenn sie ihm heute Abend unvorbereitet
gegenüberstand.
Arme
Lily - das war nicht das Einzige, womit sie sich heute Abend würde
auseinander setzten müssen. Er hätte von Elizabeth mehr Feingefühl im Umgang
mit Lilys Gefühlen der Unzulänglichkeit erwartet, als sie auf einen Ball der
feinen Gesellschaft zu schleppen, wo sie schon kaum mit dem alltäglichen Leben
auf Newbury Abbey zurechtgekommen war. Sie war einfach nicht in der Lage, eine
solch schwere Prüfung zu bestehen, und sie würde äußerst unwohl fühlen. Die
Nervosität, die er verspürte, als er sich schließlich mit seinem Cousin dem
Cavendish Square näherte und die Stufen zum Ballsaal der Ashtons hinaufstieg,
galt ihr genauso wie ihm.
»Zum
Teufel«, murmelte er dem Marquis zu, als sie auf der Schwelle standen. »Warum
tue ich das?«
Unglücklicherweise
war gerade Tanzpause und bei seinem Erscheinen entstand ein
unmissverständliches Getuschel, das keine Sekunde später von dem Stimmengewirr
erneut aufgenommener Konversationen gefolgt wurde, als ein Ballsaal voller
Menschen sich redlich bemühte, den Eindruck zu erwecken, sich um ihre eigenen
Angelegenheiten zu kümmern. Lily war also tatsächlich hier. Neville nahm nicht
an, dass seine Anwesenheit allein eine solch offensichtliche Unruhe verursachen
würde.
Dieser
Ball, vermutete er, würde zur Sensation des Jahres werden. Vielleicht des
Jahrzehnts. Zur Hölle damit, aber er hätte sich nicht darauf einlassen dürfen.
Das Ganze war ein Fehler.
»Elizabeth
sei verflucht«, sagte er, immer noch flüsternd.
»Mein
lieber Nev«, sagte der Marquis langatmig, »genau für solche Gelegenheiten ist
das Monokel erfunden worden.« Er hielt seins ans Auge und ließ den Blick
überheblich über die Anwesenden schweifen.
»Damit
ich das ganze Elend vergrößert sehen kann?«, fragte Neville, verschränkte die
Hände hinter dem Rücken und zwang sich, sich umzusehen. Einen vollen Monat lang
hatte er sich nach Lilys Anblick gesehnt und dennoch hatte er jetzt Angst, sie
zu sehen -Angst, sie durch die peinliche Situation gelähmt zu sehen, die
auch für ihn beinah unerträglich war.
»Dort
hinten, zu deiner Linken, Nev«, sagte sein Cousin.
Portfrey
war sofort zu erkennen und neben ihm Elizabeth. Eine Menschentraube umringte
sie - fast ausschließlich Männer, wobei es den Anschein hatte, als
befände sich noch ein weibliches Wesen in ihrer Mitte. Lily? Einem solchen Mob
ausgesetzt? Neville spürte wieder diese Kälte, die ihn stets überkommen hatte,
wenn er inmitten einer Schlacht einen seiner Männer einer Übermacht von Feinden
ausgesetzt gesehen hatte.
Der Mob
hatte ihn offensichtlich nicht bemerkt. Aber alle anderen. Alle beobachteten
ihn mit größter Aufmerksamkeit - obwohl er der Überzeugung war, dass sich
niemand dabei ertappen lassen würde, würde er sich umblicken, während er den
Ballsaal in Richtung der Gruppe durchquerte.
»Ruhig,
Nev«, sagte der Marquis neben ihm. »Du siehst aus, als wolltest du gleich mit
Fäusten um dich schlagen. Das wäre nicht die feine Art, alter Freund. Das
Schauspiel würde gierig aufgesogen werden und mindestens ein Jahrzehnt an dir
hängen bleiben. Und ebenso an Lily, verstehst du?«
Elizabeth
sah sie kommen und lächelte großmütig. »Joseph! Neville!«, rief sie. »Wie
entzückend, euch beide zu sehen.«
Die
guten Manieren gewannen die Oberhand. Neville verbeugte sich, ebenso sein
Cousin. Dann tauschten sie Verbeugungen mit dem Herzog von Portfrey, der sich
ebenfalls umgedreht hatte, um sie zu begrüßen.
»Deiner
Mutter geht es gut, hoffe ich, Neville?«, fragte Elizabeth. »Und auch
Gwendoline und Lauren?«
»Allen
dreien«, versicherte ihr Neville. »Sie lassen grüßen.«
»Danke«,
sagte sie. »Hast du schon Miss Doyle kennen gelernt? Darf ich euch vorstellen?«
Die
Unverschämtheit dieser Frau, dachte Neville. Sie hatte ihren Spaß. Der Mob,
bemerkte er, war leiser geworden. Einige der Kerle hatten sich zurückgezogen.
Und dann bekam er dummerweise Angst, sich umzudrehen. Es bereitete ihm
körperliche Schwierigkeiten. Aber er tat es - ziemlich ruckartig.
Er
vergaß, dass er, genau wie sie, von der halben Gesellschaft beobachtet wurde.
Sie war
ganz in Weiß - ganz zarteste Schlichtheit. Sie sah aus wie ein Engel. Sie
trug ein hochtailliertes, kurzärmeliges Satinkleid mit rechteckigem
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