01 - Nicht ohne meine Tochter
erheben und für meine Freiheit zu kämpfen. Ich sah mein Kind an. Mahtabs zarte Haut war mit großen Flecken von den unzähligen Mückenstichen bedeckt. Der Sommer ging vorbei. Bald würde es Winter werden. Bevor ich es merkte, würden die Jahreszeiten - würde die Zeit an sich - im Nichts verschwimmen. Je länger wir hierblieben, um so leichter würde es uns fallen, uns zu ergeben. Dads bevorzugte Parole kam mir in den Sinn: »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.« Aber selbst wenn ich den Willen hätte, wer wüsste einen Weg, um uns zu helfen?, fragte ich mich. Gab es irgend jemanden, der mich und mein Kind aus diesem Alptraum herausreißen würde? Langsam, trotz des Nebels, in den mich die Krankheit und die Betäubungsmittel, die mir Moody verabreichte, hüllten, wurde mir die Antwort klar. Keiner konnte uns helfen. Nur ich allein konnte uns hier herausholen.
Ich befand mich eines Abends kurz nach Einbruch der Dunkelheit in der Halle von Ameh Bozorgs Haus, als ich das bedrohliche Dröhnen von tieffliegenden Düsenjägern hörte, die sich unserem Stadtteil näherten. Grelle Blitze aus Flugabwehrgeschossen erhellten den Himmel, gefolgt vom scharfen, donnernden Echo der Detonationen in der Luft. Mein Gott! dachte ich, der Krieg ist nach Teheran gekommen. Ich wandte mich suchend nach Mahtab um, um mit ihr an einen sicheren Ort zu laufen, aber Madschid sah meinen ängstlichen Gesichtsausdruck und bemühte sich, mich zu beruhigen. »Es ist nur eine Demonstration,«, sagte er, »zur Kriegswoche.«
Moody erklärte mir, dass die Kriegswoche ein Mal im Jahr stattfindet, um den ruhmreichen islamischen Kampf im Krieg mit dem Irak zu feiern. Und, weitergedacht, auch mit Amerika, weil die ganze Propaganda den Iranern erklärte, dass der Irak lediglich eine von den Amerikanern bewaffnete und kontrollierte Marionette sei. Wir befinden uns im Krieg mit Amerika.«, berichtete er mir mit unverhohlener Freude. »Das ist gerecht. Dein Vater hat meinen Vater umgebracht.« »Was willst du damit sagen?« Moody erklärte, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg bei den amerikanischen Streitkräften im südlichen Iran gedient hatte, als Lazarettarzt gearbeitet, und zahlreiche G.I.s gegen Malaria behandelt hatte und sich schließlich selbst mit dieser, in seinem Fall tödlichen, Krankheit angesteckt hatte. »Nun werdet ihr dafür bezahlen müssen.«, sagte Moody. »Dein Sohn Joe wird im Golfkrieg sterben. Darauf kannst du dich verlassen.« Mir war zwar klar, dass Moody mich reizen wollte, aber ich konnte die Realität und seine sadistischen Fantasien nicht auseinanderhalten. Dies war einfach nicht der Mann, den ich geheiratet hatte. Wie sollte ich also wissen, ob irgendetwas der Wirklichkeit entsprach? »Komm!«, sagte er, »wir gehen auf das Dach.« »Wozu?« »Eine Demonstration.« Das konnte nur eine anti-amerikanische Demonstration sein. »Nein.«, sagte ich. »Ich komme nicht mit.« Ohne ein Wort schnappte Moody Mahtab und trug sie aus dem Zimmer. Sie schrie vor Überraschung und vor Angst auf, zappelte in seinem festen Griff, aber er packte zu und folgte dem Rest der Familie auf das Dach.
Bald hörte ich entsetzliche Geräusche, die durch die geöffneten Fenster hereinfluteten. »Marg bar Amrika!«, brüllten Stimmen im Chor von allen Dächern der Umgebung. Mittlerweile kannte ich den Schlachtruf gut, denn er war ja stets in den iranischen Nachrichtensendungen zu hören: »Nieder mit Amerika!« »Marg bar Amrika!« Die Rufe wurden lauter und leidenschaftlicher. Ich hielt mir die Ohren fest zu, aber das fanatische Gebrüll wurde nicht schwächer. »Marg bar Amrika!« Ich rief nach Mahtab, die mit den anderen Familienmitgliedern auf dem Dach war und sich im harten Griff eines wahnsinnigen Vaters wand, der verlangte, sie solle sich gegen ihr Land wenden.
»Marg bar Amrika!« In Teheran erhoben sich in jener Nacht bis zu vierzehn Millionen Stimmen als eine. Von Dach zu Dach rollend, ein Crescendo bildend, die Bevölkerung in einen hypnotischen Taumel versetzend, schnitt mir der niederschmetternde, nervenaufreibende, furchterregende Gesang in die Seele. »Marg bar Amrika! Marg bar Amrika! Marg bar Amrika!«
»Morgen fahren wir nach Ghom.«, verkündete Moody. »Was ist das?« »Ghom ist das religiöse Zentrum des Iran. Eine heilige Stadt. Morgen ist der erste Freitag des Moharram, des Trauermonats. Dort befindet sich ein Grabmal. Du wirst einen schwarzen Tschador tragen.« Ich musste wieder an unseren Besuch in
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