01 Nightfall - Schwingen der Nacht
bewegte sich unter seiner Hand. Sein bleiches Gesicht wirkte beunruhigt. Das Bluten ließ nach und hörte auf. Das Fieber verschwand. Lucien strich Dantes schwarzes Haar zurück, beugte sich hinab und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Soll er mich hassen. Ich werde ihn verbergen und am Leben erhalten – und nicht irrsinnig werden lassen?
Sein Herz zog sich qualvoll zusammen. Er richtete sich auf.
Ich werde tun, was ich tun muss.
Er ging durch das Zimmer zur Balkontür und zog die Vorhänge auf. Das letzte Sonnenlicht tauchte den Raum in tiefes Rot. Wie vergossenes Blut. Lucien stand am Fenster und lauschte den anderen, als diese in den anderen Zimmer, die im selben Flur lagen, langsam erwachten. Er lauschte dem Pulsschlag der hereinbrechenden Nacht und dem Rhythmus seines eigenen dunklen Herzens.
Er hörte, wie sein Sohn auf dem Futon hinter ihm tief Luft holte. Er vernahm auch das Anhrefncathl – das Chaoslied eines Schöpfers –, das in der Seele seines Kindes erwachte.
Ohne hinzusehen, wusste er, dass Dante die Augen geöffnet hatte.
»Wir haben einiges zu besprechen«, sagte Lucien.
Dante streckte sich. Das seidene Betttuch streichelte seinen Rücken, und seine Muskeln entspannten sich wohlig. Fetzen von Träumen entglitten ihm, ohne dass er sie hätte aufhalten können. Bilder von vor dem Schlaf tauchten vor seinem geistigen Auge auf.
Heather unter ihm, die Lippen leicht geöffnet, ihr Gesicht von Leidenschaft erfüllt …
Die brennende Gaststätte, LaRousses boshaftes Lächeln …
Jay …
Dante öffnete die Augen und setzte sich mit pochendem Herzen auf. Rötliches Licht fiel durch die Balkontür herein und erleuchtete Luciens große Gestalt.
»Wir haben einiges zu besprechen«, sagte dieser.
Dante stockte einen Augenblick lang der Atem, als eine weitere Erinnerung hochkam: die Kathedrale, Lucien durchbohrt … seine gemurmelten Worte: Du siehst ihr so unfassbar ähnlich.
Er schlug die Decken zurück und stand auf. »Nein, haben wir nicht«, sagte er. »Nie mehr.«
»Da irrst du, mein Junge.«
Lucien öffnete die Tür und trat auf den schmiedeeisernen Balkon hinaus. Das schwindende Licht überschattete sein Gesicht.
Dante hob eine dunkle Jeans vom Boden auf und schlüpfte in sie hinein, ehe er den Reißverschluss zumachte. Dann trat er auch auf den Balkon hinaus. Luciens Blick war starr auf das letzte Licht kurz vor der Abenddämmerung am Horizont gerichtet.
»Du kannst Ronin nicht folgen«, sagte er, ohne ihn anzusehen.
»Nein? Du willst mir das verbieten? Du kannst mich mal.« Dantes Finger legten sich um das kalte Metallgeländer des Balkons.
»Ronin wird deine Vergangenheit wecken. Das wird dich brechen«, sagte Lucien und wandte Dante sein Gesicht zu. »Du musst eine andere Möglichkeit finden, Gina und Jay zu rächen.«
»Du kannst mir nicht mehr vorschreiben, was ich tun und lassen soll.«
»Habe ich das denn je? Hat das irgendjemand? Du bist sehr eigensinnig, Junge.«
»Auf dich habe ich gehört«, antwortete Dante mit deutlich belegter Stimme. »Mehr als auf alle anderen.«
Ein Bild schoss ihm durch den Kopf – das Bild eines kleinen Mädchens in einer Ecke, einen Orca aus Plüsch an die Brust gepresst, ihr Gesicht tränenüberströmt und völlig verängstigt.
Dante-Engel?
Er kam ins Wanken, als sich Schmerz in seinen Kopf bohrte. Chloe. Sühne für Chloe. Starke Arme legten sich um ihn und gaben ihm Halt. »Lass los«, flüsterte er und versuchte, Luciens Arme fortzuschieben. »Lass mich in Ruhe, verdammt.«
Dante taumelte in sein Zimmer, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Er sank zu Boden, hielt sich den Kopf mit den Händen und schloss die Augen. Obgleich er versuchte, die Bilder von Chloe vor sich zu sehen, entglitten sie ihm immer wieder.
Er sah immer wieder, wie sie zusammengekauert und verängstigt in einer Ecke saß und dann in einer Blutlache lag, aber er sah nie, was dazwischen geschah. Dieses namenlose Dazwischen war es, was ihn so aufwühlte.
Sie hieß Chloe, und du hast sie getötet.
Schweiß lief ihm über die Schläfen. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und durchs Haar. Dann schlug er seinen Hinterkopf gegen die Wand. Der Schmerz ließ nach. Er verschwand zwar nicht, wurde aber erträglich genug, um nachdenken zu können.
Ein Gedanke klopfte an seine Schilde, ein Gedanke Simones. Er öffnete sich ihrer Berührung. Heather ist am Telefon. Sie will dich sprechen.
D’accord, chérie. Ich bin unterwegs.
Dante stand auf,
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