01 - Tage der Sehnsucht
sich die Treppe hinabdrängte, erkannte er Fiona an ihrem
schwarzen Lockenkopf, wie sie gerade auf die Straße hinaustrat.
Was hatte das
Mädchen bloß vor, dass sie ohne ihren Vater oder .einen Diener wegging? Es war
allgemein bekannt, dass der Geizhals von Mayfair keine Kutsche hielt.
Rasch zwängte er
sich durch die Leute, die sich immer noch nach oben schoben, gelangte zum
Ausgang und trat hinaus. Da sah er gerade noch ihre schlanke Gestalt um die
Ecke der Green Street biegen und in der Park Lane verschwinden.
Joseph hatte zunächst gegen den ganzen Plan
lauthals protestiert. Doch als er jetzt die Zeit auf der von Mr. Rainbird
entliehenen Uhr überprüfte, spürte er eine heftige Erregung; Sein Kostüm spielte
dabei eine wesentliche Rolle.
Er war in einen
langen schwarzen Mantel gekleidet, dessen Kapuze sein maskiertes Gesicht
verbarg. jeder, der ihn sah, musste ihn für einen jungen Mann auf dem Weg zu
einem Maskenball halten.
Folgendes war
geplant: Fiona würde sich Punkt neun aus der Gesellschaft wegstehlen und in die
Park Lane begeben. Dort sollte Joseph sich auf sie stürzen und so tun, als ob
er auf sie einschlüge. Wenn sie dann zum Schein Schreie ausstieß und in
Ohnmacht fiel, käme Rainbird angerannt, um sie zu »retten«. Er würde sie dann
in »bewusstlosem« Zustand auf seinen Armen zu den Bascombes tragen und dafür
sorgen, dass Lord Harrington von dem »brutalen« Überfall erführe. Inzwischen
sollte Joseph in den Hyde Park fliehen, wo sich Dave und MacGregor bereithalten
würden, um mögliche Verfolger in die falsche Richtung zu locken.
Man erwartete, dass
sich in Lord Harringtons kühler Brust Gefühle entwickeln würden, wie sie
fahrenden Rittern zu eigen sind. Fiona hatte den Plan für sehr dürftig
gehalten, meinte aber schließlich, er könne als eine Art Probe dienen, bis
Rainbird etwas Besseres einfalle.
Der erste Fehler,
von dem Joseph freilich nichts wußte, unterlief Rainbird. Er vergaß nämlich, dass
die Taschenuhr, die er Joseph geliehen hatte, als einzige in Nummer 67 richtig
ging. So war es schon zehn Minuten über die Zeit, als er sich, gefolgt von
MacGregor und Dave, auf den Weg machte.
Inzwischen hatte
Fiona mit Befriedigung festgestellt, dass die Park Lane genauso ruhig war, wie
sie das um diese Zeit vorausgesetzt hatten, wenn die wohlhabenden Leute und
ihre Diener zu Hause waren. Sie lächelte, als Joseph aus dem Schatten einer
großen Platane trat.
»Halt, schönes
Fräulein!« schrie er. »Her mit Ihrem Schmuck, oder es kostet Sie das Leben!« Er
zog MacGregors bestes Tranchiermesser aus den Falten seines Mantels und hielt
es in die Höhe, so dass das flackernde Licht der Straßenlaterne auf seine
gefährliche Schneide fiel.
»Du sollst mich
betäuben«, sagte Fiona, »nicht erstechen!«
Plötzlich sah Joseph
eine männliche Gestalt auf sich zu laufen und ließ mit einem Angstschrei das
Messer fallen. Er versuchte zu fliehen, aber der lange Mantel wickelte sich um
seine Beine, und er fiel der Länge nach hin.
Lord Harrington
wollte, sich auf ihn stürzen. Er hatte kaum seinen Augen zu trauen gewagt, als
er eine große maskierte Gestalt vor Fiona ein Messer schwingen sah.
Aber noch ehe der
Lord den zu Boden gestürzten Angreifer erreichen konnte, hatte Fiona sich, dem
Earl entgegengeworfen und ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Er bemühte sich
vergeblich, seine Arme aus ihrem festen Griff freizubekommen. »Lassen Sie mich
los, Miß Sinclair«, keuchte er. »Ich muss den Mann fangen.«
Fiona bemerkte aus
den Augenwinkeln, wie sich Joseph aufrappelte. Gleichzeitig nahm sie flüchtig
wahr, dass Rainbird, MacGregor und Dave auf der anderen Seite am Rand des Parks
entlangeilten.
»Mein Held!« sagte
Fiona und verstärkte erbarmungslos ihren Griff. Der Earl blickte zu ihr
hinunter. In seinen Augen blitzte es argwöhnisch auf. Fiona zog seinen Kopf zu
sich herab und küsste den Lord innig auf den Mund.
In diesem
Augenblick vergaß der Earl of Harrington sämtliche Angreifer, Messer,
Abendgesellschaften und auch alles andere, was es sonst noch in der großen
weiten Welt gab. Der warme, weiche Druck von Fionas Mund versetzte ihn in einen
wahren Taumel. Ihr Busen drängte sich an seine Brust, ihre Schenkel pressten
sich gegen die seinen. Sie roch nach Seife und Rosenwasser.
Er erwiderte ihren Kuss
mit blinder, heftig fordernder Leidenschaft.
Als sie schließlich
sanft ihren Mund von dem seinen löste und sich umdrehte, musste er entdecken, dass
der Angreifer
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