01-Unsterblich wie die Nacht-redigiert-25.10.12
einen neuen Zeitvertreib im Krieg und in der Kunst. Er hatte Ölmalerei studiert und einige Perfektion darin erlangt. Es war Nahrung für seine Seele gewesen. Wie lange er nicht mehr daran gedacht hatte …
Und jetzt schien es, als wäre seine innere Glut am Erlöschen, so wie das Feuer im Kamin. Als würde er verzweifelt an der Restglut festhalten und auf einen frischen Wind hoffen, der sie wieder anfachte.
Der Rauch stieg tanzend in den Kaminschacht auf.
Eine zierliche, anmutige Gestalt schien sich daraus zu bilden … Helena.
Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück, eine ferne Vergangenheit, in der seine Schwester fröhlich um ihn herumtanzte …
»Ach, komm, Alexander - bloß ein Tanz!«
Helena umkreiste ihn mit wehendem Haar und einem Lächeln wie Sonnenschein.
»Ich habe keine Zeit zum Tanzen, Helena. Wir stehen kurz vor einer Schlacht, falls du es noch nicht bemerkt hast.«
Helena blieb vor ihm stehen, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Alexander Kourakin! Ihr steht doch immer kurz vor irgendeiner Schlacht - das zählt nicht! Komm, jetzt tu mir schon den Gefallen. Was gibt es Schöneres als zu tanzen, um das Leben zu feiern?«
Alexander schüttelte lächelnd den Kopf und strich seiner Schwester eine vorwitzige Locke hinters Ohr.
»Was täte ich nur ohne dich, Süße? Wer würde mich ermahnen zu lächeln, wer würde mich schimpfen, dass ich viel zu ernst bin? Wer würde mich kurz vor einer Schlacht zum Tanzen überreden?«
»Ach, mach dir deswegen keine Gedanken! Ich habe den tapfersten Bruder auf der ganzen Welt, weißt du? Der würde nie zulassen, dass mir etwas zustößt. Nein, ich werde noch lange auf dieser Welt verweilen, noch lange!«
Sie wurde ernst. In ihren hellgrauen Augen lag ein unendlich zärtlicher Ausdruck. »Und jetzt tanz mit mir, bevor uns die Türken den Spaß verderben.«
Alexanders Magen krampfte sich zusammen, und er schlug mit der Faust an die Wand. Aber noch bevor der Putz auf den Boden geprasselt war, hatte er sich wieder unter Kontrolle.
Traurigkeit war ein Gefühl, mit dem Alexander nicht sehr vertraut war. Er war viel zu stolz, zu selbstbewusst, um in Trauer oder Verzweiflung zu versinken, wie so viele andere.
Doch die Schuld war sein ständiger Begleiter, und nur ganz selten einmal ließ sie ihn für einen Augenblick in Ruhe.
6. Kapitel
Er leckte seine trockenen Lippen. Seine Zunge fuhr über die scharfen Spitzen seiner Eckzähne. Er war hungrig, schon wieder. In letzter Zeit schien er ständig hungrig zu sein.
Seine letzte Mahlzeit lag bereits einige Tage zurück, und der Blutdurst wurde immer stärker, benebelte seine Sinne. Seine Augen schmerzten im grellen Tageslicht der geschäftigen Londoner Einkaufsstraße. Sein Magen krampfte sich jedes Mal zusammen, wenn ein Mensch an ihm vorbeiging, ohne zu wissen, wie verlockend er roch, was für eine Versuchung er war.
Ja, er war versucht, sich den Nächstbesten zu schnappen, einen dieser kleinen braunhaarigen Jungen vielleicht, die ihm ständig anboten, seine Schuhe zu putzen. Wie einfach es wäre, sich so ein zartes Handgelenk zu greifen und in die pulsierende Ader zu beißen, die verlockende, süße Ader …
Aber er hatte keine Lust auf kleine Jungen - oder auf Männer. Nein, Frauen waren es, die er mochte, die weichen, nachgiebigen Kurven einer Frau.
Er sah sich gierig um. Er brauchte ein Opfer, ja, und zwar rasch. Später, viel später, würde er dann den Menschen zu sich rufen und ihm noch ein paar Hinweise geben. Dann würde der Dummkopf endlich die richtigen Schlüsse ziehen - und der blutigste Krieg aller Zeiten konnte beginnen!
»Warte hier auf mich, Richard, ich bin gleich wieder da.«
Er fuhr herum und sah die Frau, die ihren Kutscher gebeten hatte zu warten, auf ein Hutgeschäft zugehen. Sie trug ein blassrosa Kleid voller Rüschen und Spitzen, das für einen abendlichen Ball passender gewesen wäre als für einen nachmittäglichen Einkaufsbummel. Ihre Nase war ein wenig zu lang, sie hatte Pausbacken und hoch angesetzte Brauen: keine Schönheit. Aber ihre weiche, plumpe Figur mit dem üppigen Busen und dem verlockenden Duft ihres Bluts machten sie zu einem perfekten Opfer.
Er blickte ihr lächelnd nach, entblößte dabei seine Fangzähne und befingerte die Granatkette in seiner Tasche. Ja, die Granaten würden herrlich an ihrem weißen Hals aussehen. Das war das Schöne an den Engländerinnen, sie taten alles, um die vornehme Blässe ihrer Haut zu bewahren, sie schützten
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