01-Unsterblich wie die Nacht-redigiert-25.10.12
Angelica.«
Verwirrt blickte sie zu ihm auf. Er hatte recht: Sie sollte zu ihrem Bruder gehen. Sie musste an Mikhail denken, durfte nicht derart die Kontrolle verlieren. Ein Augenblick länger, und sie hätte sich jede Chance auf eine gute Partie verdorben, jede Chance auf Rettung aus ihrer finanziellen Misere.
Aber so erschreckend es war, es wäre ihr egal gewesen. Nur der Gedanke an Mikhail hätte sie zurückgehalten. Ansonsten scherte sie sich nicht darum, was die Männer von ihr dachten, was die Leute von ihr dachten.
Wenn es um diesen Mann ging, war ihr alles egal.
»Ich gehe besser.«
Sie hob die Maske vor ihre Augen und wandte sich ab. Als sie den Rand der Tanzfläche erreichte und sich noch einmal umdrehte, war er verschwunden.
16. Kapitel
Angelica hatte sich in ihrem Leben schon oft heimlich aus dem Haus geschlichen, um einen Mondscheinritt zu unternehmen. Aus diesem Grund fiel es ihr auch nicht weiter schwer, aus ihrem Fenster im ersten Stock zu klettern. Nur das Kleid war etwas hinderlich; zu Hause auf dem Lande hätte sie einfach eine Hose von Mikhail angezogen.
Es war zwar nur ein fünfzehnminütiger Spaziergang zu Alexanders Haus in der Park Lane, doch sie bezweifelte, ob es ihr gelingen würde, ungesehen dorthin zu kommen. Nun, sie musste eben so schnell wie möglich gehen und sich auf der dunklen Seite des Gehsteigs halten.
Sobald ihre Stiefel den Boden berührten, zog sie die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Dann rannte sie zur Gartentür und spähte nach draußen auf die Straße.
Nichts. Niemand zu sehen.
Perfekt.
Angelica raffte ihre Röcke und rannte los.
Warum sie dabei den Atem anhielt, war ihr selbst ein Rätsel, aber es war jedenfalls keine gute Idee; als sie schließlich bei Alexanders Haus anlangte, war sie völlig außer Atem.
Das Tor war, wie nicht anders zu erwarten, versperrt.
Mist! Und jetzt? Wenn dieser verfluchte Kerl doch bloß ihre Nachricht gelesen hätte. Die Antwort, die sie vor einer Viertelstunde erhalten hatte, war einfach empörend. Er hatte nicht mal selbst geantwortet - sein Sekretär hatte es getan. Sie konnte sich an jedes Wort dieses unverschämten Schreibens erinnern, denn sie hatte es wieder und wieder gelesen:
Sehr geehrte Dame,
Prinz Kourakin ist derzeit leider nicht in der Lage, sich Ihrem Schreiben zu widmen. Er wird es zu gegebener Zeit beantworten.
Seien Sie versichert, dass weder ich noch sonst jemand im Hause den Brief gelesen hat.
Hochachtungsvoll,
Prinz Kourakins Assistent
Wenn Alexander Kourakin glaubte, sie so leicht loswerden zu können, dann hatte er sich geirrt! Auch wenn sie sich seinetwegen auf dem Ball so vergessen hatte - wie er das geschafft hatte, war ihr ebenfalls ein Rätsel - heute Nacht würde sie ihn zwingen, ihr von den anderen Gedankenlesern zu erzählen. Und wenn es das Letzte war, was sie tat!
Angelica blickte sich wütend um auf der Suche nach einem Weg hinein in das riesige Anwesen. Es wirkte düster, die Mauern abweisend und unüberwindlich. Aber wenn sie etwas aus all den Büchern über Kriegsführung gelernt hatte, dann dies: Keine Festung war uneinnehmbar. Und ein Stadthaus schon gar nicht.
Als Angelica einen Schritt auf das Tor zu machte, fiel plötzlich ein Mondstrahl auf sie.
Sie warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel und brummte: »›Das hat wahrhaftig nur der Mond verschuldet; er kommt der Erde näher, als er pflegt, und macht die Menschen rasend. ‹«
Ja, sie konnte Othello nur beipflichten.
Was tun? Was tun?
Da fiel ihr Blick auf einen ziemlich großen Baum, der seine Äste über die Mauer reckte. Sie hätte beinahe vor Freude in die Hände geklatscht.
»Perfekt, perfekt, perfekt!«
Ein besonders dicker Ast reichte ziemlich weit nach unten. Angelica stopfte ihre Röcke in ihren Gürtel und gab ihre nackten Beine der kühlen Nachtluft preis. Dann sprang sie. Schon beim zweiten Versuch gelang es ihr, den Ast zu greifen. Sie hievte, sie ächzte … sie zog sich hoch!
Nach einem Beinahe-Absturz und etlichen Abschürfungen an den Händen war sie endlich auf der Mauer. Ein Sprung, und sie stand im Garten.
Und jetzt? , dachte sie und musste an sich halten, um nicht laut zu lachen. Sie musste wirklich aufhören, so leichtsinnig zu sein. Was für eine Schnapsidee, nachts bei Alexander einzubrechen! Sicher, sie ärgerte sich, aber hätte sie nicht wenigstens noch ein paar Stunden warten können?
Das kam davon, wenn man wie ein Wildfang auf dem Lande aufwuchs und als Gesellschaft
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