010 - Skandal in Waverly Hall
Wahrheit für immer zu verbergen. Er hatte seine Familie unbedingt schützen wollen.
Aber jetzt war er alt. Das Leben glitt ihm aus den Händen, und er mußte verhindern, daß sein Enkel nur Halbwahrheiten oder Lügen erfuhr. Dominick sollte alles wissen.
Gewiß war es am besten, wenn er es ihm selber erzählte.
Rutherford öffnete die Tür, und Dominick stand unsicher auf. Offensichtlich hatte er auf ihn gewartet. Er sagte kein Wort, nicht einmal zur Begrüßung. Und er war eindeutig wütend.
Rutherford verlor den Mut. Genau dies hatte er immer befürchtet - Dominicks Feindschaft und Verdammung. „Cald-well berichtete mir, daß du Besuch hattest, Dominick", begann er. „Fairhaven. Was hat er gewollt?"
Dominick lächelte freudlos. „Er wollte Geld, und ich lehnte ab."
Rutherford rührte sich nicht. „Verstehe."
„Wirklich?" Dominick sah seinen Großvater hart an. „Er sagte mir die Wahrheit."
Der Herzog antwortete nicht sofort. „Was hat er genau gesagt?" fragte er endlich heiser.
„Er behauptete, daß Philip nicht mein Vater wäre." Dominick trat dicht an Rutherford heran und richtete sich hoch auf. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. „Sag mir die Wahrheit, Großvater. Du mußt sie doch kennen. Erzähl mir, was wirklich los ist."
Ihre Blicke begegneten sich, und ein kraftvolles, immergültiges Gefühl wallte in beiden auf, das über Liebe weit hinausging.
Plötzlich war Rutherford unendlich erleichtert. Es gab kein Zurück. Das Buch war geöffnet und ließ sich nicht mehr schließen. Ihm blieb keine Wahl, er mußte Dominick alles sagen. Gemeinsam würden sie das Geheimnis tragen und bewahren, um Rückwirkungen zu vermeiden und weitere Folgen auszuschließen. Vor allem jedoch, um einen Skandal zu verhindern.
Er öffnete den Mund und wollte sprechen. Doch kein Ton kam über seine Lippen.
Statt dessen schwindelte ihm plötzlich, und er bekam kaum noch Luft. Ein gewaltiger Druck bildete sich in seinem Kopf. Er konnte sich kaum noch aufrecht halten und hatte plötzlich furchtbare Angst. Trotzdem hielt er an seinem Entschluß fest.
„Dominick, meine Güte ..."
Dominick sah seinen Großvater fragend an.
Als Rutherford nichts sagte, wandte er sich ab und verließ die Bibliothek.
„ Warte", keuchte der Herzog. Aber Dominick war schon fort.
Rutherford schrie auf, denn ein furchtbarer Schmerz durchzuckte seinen Kopf. Er taumelte nach vorn, klammerte sich an die Tür und fürchtete, daß dies sein Ende wäre.
Mit einem dumpfen Schlag stürzte er zu Boden, und vor seinen Augen wurde alles schwarz.
Der Tod lauerte wie ein bleiches Gespenst über ihm und streckte seine skelettartigen Arme und Hände nach ihm aus.
Rutherford wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Er hatte Dominick noch nicht die Wahrheit gesagt. Einen einzigen Kampf mußte er noch bestehen.
Er mußte seine Familie retten.
23. KAPITEL
In Rutherford House war es beinahe unheimlich still, als Anne endlich zurückkehrte.
Sie war ziemlich durcheinander. Den ganzen Morgen war sie durch den Hyde Park geritten und hatte die neugierigen Blicke der anderen Reiter und Insassen der Kutschen nicht beachtet. Sie hatte sich zusammengerissen, um einige Damen nicht barsch zurückzuweisen, die sie freundlich angesprochen hatten. Sie war so zerstreut, daß sie sich nicht einmal die Namen der Frauen merken konnte, mit denen sie geredet hatte. Sie wußte nur, daß man sie gebeten hatte, einmal vorbeizukommen, und daß sie zu zahlreichen Ereignissen eingeladen worden war, deren Datum sie nicht behalten hatte.
Zur Zeit konnte sie unmöglich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Die letzte Nacht hatte sie kein Auge zubekommen und vor Kummer geweint. Sie hatte Dominick unendlich begehrt und ihn bedingungslos geliebt. Noch vor wenigen Tagen hatte sie geglaubt, daß sich ihre kühnsten Träume erfüllen würden. Doch das war ein gewaltiger Irrtum gewesen. Dominick liebte sie nicht; er empfand nichts für sie. Falls Belle und Patrick recht hatten, plante er sogar einen Mord, um seine ungeliebte Frau loszuwerden.
Aber die beiden konnten nicht recht haben. Anne weigerte sich hartnäckig, diesen Verdacht zu teilen.
Sie versuchte, ihren Schmerz und ihre Angst zu verdrängen, damit sie klar denken konnte. Eines ließ sich nicht leugnen: Jemand wollte ihr schaden oder sie sogar töten. Eigentlich kam nur Felicity dafür in Frage. Anne konnte sich indes nicht vorstellen, wie die Cousine sich zweimal Zutritt zu ihren Räumen hätte
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