010 - Skandal in Waverly Hall
der nächsten vierundzwanzig Stunden das
Bewußtsein nicht wiedererlangt, sieht es schlecht aus", erklärte Dr. Mansley mit fester Stimme.
Anne trat an das Bett, setzte sich zu dem Herzog und nahm seine Hand. Sie war völlig schlaff. „Danke, Doktor."
„Danken Sie mir nicht. Ich kann im Moment nichts für Seine Gnaden tun. Immer wieder habe ich ihm geraten, sich mehr Ruhe zu gönnen und weniger zu trinken und zu rauchen." Der Arzt seufzte leise. „Rufen Sie mich sofort, falls er aufwacht. Ich möchte ihn unbedingt untersuchen."
Anne nickte und betrachtete Rutherfords Gesicht. Es wirkte alt und hager in diesem Zustand zwischen Leben und Tod. Sie faßte seine Hand fester. „Bitte, wachen Sie auf, Euer Gnaden. Wir brauchen Sie alle sehr. Bitte, kämpfen Sie um Ihr Leben."
Rutherford rührte sich nicht. Seine Augenlider zuckten nicht einmal.
„Euer Gnaden", fuhr Anne fort und schluckte. „Ich weiß, daß es sehr kühn und beinahe vermessen ist. Aber ich muß es Ihnen unbedingt sagen. Ich habe Sie die letzten Jahre sehr liebgewonnen." Tränen rannen ihre Wangen hinab. „Sie waren so gut zu mir. Ich danke Ihnen für alles." Sie schluckte die Tränen hinunter. „Bitte, werden Sie wieder gesund."
Caldwell trat neben sie. Seine Augen waren geschwollen, seine Nase war gerötet, und Tränen rannen über seine Wangen. „Wir beten für Ihre Gesundung, Euer Gnaden", sagte er heiser. „Jeder Diener und das ganze Personal. Alle mögen Sie sehr, Sir, wenn Sie mir die ungehörige Bemerkung erlauben."
Der Duke of Rutherford rührte sich immer noch nicht. Er lag wie tot da.
„Was ist passiert?"
Anne erstarrte innerlich, als Dominick ins Zimmer eilte. Er war kreidebleich und sah entsetzt zu seinem Großvater hinab.
„Der Herzog hat einen Schlaganfall erlitten", sagte sie heiser.
„O nein", flüsterte Dominick und rührte sich nicht.
Anne stand langsam auf und ließ Rutherfords Hand los. Mehr als eine Stunde hatte sie zu ihm gesprochen, in der vagen Hoffnung auf eine kleine Reaktion. Aber es war nichts gekommen. Sie hatte sogar den Eindruck, daß der Herzog dem Leben immer stärker entglitt.
Jetzt trat sie ans Fußende des Bettes und achtete sorgfältig darauf, daß ihre Röcke Dominick nicht berührten. Sie betrachtete ihn unauffällig. Wie ein Mörder sieht er bestimmt nicht aus, dachte sie.
Dominick weinte stumm. Tränen liefen seine Wangen hinab, während er zu seinem Großvater trat. Anne war nicht sicher, ob er ihre Anwesenheit überhaupt noch wahrnahm. „Es ist alles meine Schuld, Großvater", stieß er hervor. „Es tut mir so leid."
Rutherford rührte sich nicht.
Dominick sank neben dem Herzog nieder und strich ihm behutsam eine weiße Strähne aus der Stirn. „Meine Güte, es tut mir so leid." Er schluchzte. „Wie konnte das geschehen? Du warst so stark, so allmächtig. Ich glaube, ich hielt dich für unsterblich."
Anne legte die Arme um ihren Körper und hätte sich gern abgewandt. Aber sie brachte es nicht fertig. Sie weinte stumm.
„Ich brauche dich so sehr", flüsterte Dominick. „Du darfst uns jetzt nicht allein lassen." Seine Stimme erstarb, und er strich mit dem Ärmel über seine Augen. „Ich wollte dich nicht verurteilen, weil du mich all die Jahre getäuscht hast. Ich weiß nicht, weshalb du es tatest. Wahrscheinlich, weil kein anderer Erbe da war. Hätte ein entfernter Vetter meine Stelle nicht viel besser einnehmen können? O nein." Er konnte nicht weitersprechen und atmete schwer.
Anne vergaß ihre eigenen Sorgen. Gern wäre sie zu Dominick gegangen, hätte die Hand auf seine Schulter gelegt und ihn getröstet. Doch sie blieb wie angewurzelt stehen und preßte die Handflächen fest zusammen.
„Es ist alles meine Schuld", wiederholte Dominick in tiefem Schmerz. „Ich habe dich verärgert. Das wollte ich nicht. Dieser verdammte Fairhaven!"
Anne überlegte verzweifelt, wovon er redete.
„Ich kann nur vermuten, daß ich mit dieser Scharade weitermachen soll, Großvater.
Ich werde mir große Mühe geben. Obwohl ich es nicht verstehe, und obwohl ich Fairhaven für gefährlich halte. Vielleicht hätte ich ihm Geld anbieten sollen. Ich hoffe, daß Ciarisse mir helfen wird, alles zu begreifen." Er lächelte gequält. „Ich habe schon nach ihr rufen lassen."
Rutherfords Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt.
„Aber vielleicht spielt das jetzt gar keine Rolle mehr!" rief Dominick.
„Dominick", flüsterte Anne.
Er hörte sie nicht, sondern nahm die kalten Finger des
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