010 - Skandal in Waverly Hall
eilte aus dem Raum. Kopflos floh sie den Korridor hinab. Dominick rief ihr etwas nach. Seine Stimme klang nicht mehr wütend, sondern besorgt. Doch sie beachtete ihn nicht.
In der Eingangshalle brach sie zusammen.
So ging es nicht weiter. Sie konnte Dominick nicht derart lieben, daß es weh tat, und gleichzeitig Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hegen. Das überstieg ihre Kräfte.
Ich werde nach Waverly Hall zurückkehren, beschloß sie. Dort hatte sie zumindest Raum zum Atmen und Zeit zum Nachdenken.
Sie mußte unbedingt zu einer Entscheidung kommen. Eine freundschaftliche Trennung von Tisch und Bett würde niemals klappen. Dafür war die Leidenschaft zwischen Dominick und ihr zu groß. Entweder kehrte sie rückhaltlos als Ehefrau zu ihrem Mann zurück, oder sie mußte ihn verlassen, wie er sie einst verlassen hatte.
29. KAPITEL
Anne erreichte Waveriy Hall am nächsten Tag. Dominick hatte vom Fenster des vorderen Salons zugesehen, wie sie mit Belle und allem Gepäck am Morgen abgereist war, aber kein einziges Wort gesagt. Seine Miene war undurchschaubar gewesen. Sie hatte nicht feststellen können, ob ihm seine harten Worte und sein Wutausbruch vom Vorabend leid taten.
Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen. Als hätte sie ihren Mann grundlos verlassen. Dabei hatte er sie dazu getrieben.
Noch hatte sie keine Pläne. Sie wollte nur möglichst weit weg von Dominick sein, um in Ruhe zu überlegen und die richtige Entscheidung über ihre Ehe und ihre Zukunft zu treffen.
Trotzdem machte sie sich Sorgen. Sie ließ Dominick ungern ausgerechnet jetzt allein, wo die Untersuchungen über den Mord an Matthew Fairhaven begannen und der Skandal um seine uneheliche Herkunft alle Welt beschäftigte.
Anne verzichtete auf ihre Mittagsmahlzeit, zog ihr schwarzes Reitkostüm an, das so geschnitten war, daß sie im Herrensitz reiten konnte, und ließ Blaze satteln. Willie hatte ihr versichert, daß der braunrote Wallach wieder völlig in Ordnung wäre.
Sie streichelte das samtene Maul des Pferdes, gab Blaze eine Karotte zu fressen und blinzelte ihre Tränen fort. Vielleicht war ihre Rückkehr nach Waveriy Hall ein Fehler gewesen. Sie war sehr gern hier. Doch der Landsitz barg zu viele Erinnerungen für sie, und alle waren bittersüß. Wohin sie auch schaute, wurde sie an Dominick erinnert.
Endlich holte sie tief Luft und stieg mit Willies Hilfe auf. Wie sie angeordnet hatte, trug der Wallach keinen Damensattel. Sie wollte rasch wie der Wind reiten, als könnte sie damit ihre Ängste und Sorgen über die Entscheidung vertreiben, die sie treffen mußte.
Blaze schnaubte und wollte unbedingt los. In einem leichten Galopp verließ Anne die Einfahrt und entfernte sich vom Haus.
Sie sprang über einige niedrige Hecken und erreichte bald den Park. Dort beschleunigte sie das Tempo und schlug einen Reitweg ein, den sie in- und auswendig kannte. Sie duckte sich unter den tiefhängenden Ästen und stellte fest, daß die Blätter sich schon rot und golden gefärbt hatten. Der Sommer war viel zu schnell vorübergegangen. Tränen traten ihr in die Augen, und sie unterdrückte einen Schluchzer. Wie konnte sie Dominick im Stich lassen, obwohl sie genau wußte, was es hieß, einsam und allein zu sein?
Anne zog die Zügel an, denn sie hatte das Ufer eines kleinen Sees erreicht. Die Ruinen des Bergfrieds aus im Laufe der Zeit dunkel gewordenem Kalkstein leuchteten in der Sonne. Der Turm stand auf einer Erhebung in der Mitte der kleinen Insel. Einige Schwäne zogen an dem verrotteten Anleger vorüber.
Anne lächelte unwillkürlich bei diesem Anblick. Als Kind war sie häufig mit Patrick zu der Insel hinübergerudert, um darauf herumzustrolchen und zu spielen. Auch nach ihrer Heirat mit Dominick war sie noch oft dagewesen und jedesmal mit neuer Hoffnung erfüllt worden.
Sie mußte sich ihren Gefühlen stellen, das war ihr klar. Sie liebte Dominick immer noch, es ließ sich nicht leugnen. Sie hatte ihn stets geliebt und würde es auch in Zukunft tun. Aber durfte sie es wagen, zu ihm zurückzukehren?
Ja! schrie ihr Herz. Doch die Vorsicht warnte sie weiter vor ihren tiefen Empfindungen.
Blaze hob den Kopf und schnaubte leise. Offensichtlich näherte sich ihnen jemand.
Anne war nicht in der Stimmung, jetzt mit einem Reiter zu plaudern. „Was hast du, alter Junge?" flüsterte sie und streichelte den Hals des Tieres.
Blaze horchte aufmerksam. Er drehte seinen Kopf in Richtung Reitweg und schnaubte erneut.
Anne blickte in das Dickicht
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