010 - Skandal in Waverly Hall
ihn.
Und er hatte beinahe sein ganzes Leben auf sie gewartet.
Aber er war noch nicht bereit zu sterben. Noch nicht.
Sie war bei ihm. Er sah sie ganz deutlich. Ihre Anwesenheit beruhigte und erregte ihn zugleich. Diese leuchtende elfenbeinfarbene Haut, diese erstaunlich blauen Augen und dieses wunderbare, dichte mitternachtsschwarze Haar... Dieses warme aufrichtige Lächeln ... Jetzt im Tod wartete sie auf ihn; zu Lebzeiten hatte sie es nicht getan.
Wie er sie liebte, und wie sie ihm fehlte ...
Aber sie war geduldig. Sie hatte so viele Jahre gewartet und würde gewiß noch etwas länger ausharren.
Der Herzog seufzte leise. Er redete stumm mit ihr und bat sie, ihn nicht zu quälen. Er mußte noch etwas erledigen. Do-minick steckte in Schwierigkeiten. Er hatte nicht die Absicht, zu sterben, bevor Dominicks Name nicht von dem Mord an Fairhaven reingewaschen und seine Zukunft als neunter Duke of Rutherford gesichert war.
Wie hatte es soweit kommen können? Der Herzog erkannte, daß er nicht ganz schuldlos an dieser Situation war. Er hätte schon vor Jahren offen mit Dominick sprechen müssen. Doch Philip hatte ihm klargemacht, daß die Wahrheit niemals ans Licht kommen dürfe, sonst würde er Dominick enterben und einen Skandal entfachen. Rutherford hatte dieser Bedingung nicht widersprochen, um Philip seinen Stolz zu lassen. Aber um welchen Preis?
Hatte Anne die Papiere gefunden? Nicht zum erstenmal wurde der Herzog von Hoffnungslosigkeit befallen. Steh auf, geh zur Tür, steig die Treppe hinab und rück die verfahrene Angelegenheit mit ein paar scharfen Worten zurecht, riet ihm der Verstand.
Steh auf ...
Hilflos blickte der Herzog zur Tür und versuchte, sich aufzusetzen. Nie zuvor hatte er etwas so dringend gewollt. Doch er konnte keinen Muskel rühren. Es war zum Verzweifeln.
Die Anstrengung überstieg beinahe seine Kräfte. Trotzdem versuchte er es kurz darauf erneut. Sein Körper widersetzte sich seinem Verstand, und Schweißperlen rannen seine Wangen hinab. Diesmal zuckten seine Fingerspitzen.
Der Herzog fluchte stumm und hätte am liebsten geweint. Plötzlich spürte er ihre Hand auf seiner Stirn.
„Bleib ruhig, Liebling", sagte sie. „Alles wird gut werden. Vertrau mir."
Rutherfords Puls, der gefährlich zu rasen begonnen hatte, beruhigte sich wieder. Mit den Lippen konnte er nicht lächeln, doch sein Herz tat es für ihn.
Anne war ihr so ähnlich. Er liebte sie wie eine eigene Tochter.
Wo war sie? Immer noch in der Bibliothek auf der Suche nach den Adoptionspapieren? Sie hatte nicht abgewartet, bis er seine Gedanken beenden konnte. Wenn sie ihn das nächstemal besuchte, würde er ihr die Wahrheit sagen.
Das schwor er sich.
Sie mußte es unbedingt erfahren. Sofort.
Anne! rief Rutherford stumm. Anne! Komm her. Komm auf der Stelle her.
Doch die Tür öffnete sich nicht. Niemand hörte ihn, und er wurde immer erregter. In Gedanken rief er noch lauter: Anne!
„Pst", flüsterte sie ihm ins Ohr. „Sie wird schon kommen."
Der Herzog brauchte die Augen nicht zu öffnen, um die einzige wahre Liebe seines Lebens zu sehen. Er lächelte mit dem Herzen, und Janice lächelte zurück.
Ciarisse verbarg sich vor aller Welt. Nervös ging sie in ihrem Zimmer im „Cavendish Hotel" auf und ab und wußte nicht ein noch aus.
Fairhaven hatte sie gesellschaftlich vernichtet. Sie konnte sich nirgends in der Stadt oder sonstwo blicken lassen. Daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Aus eigener Erfahrung wußte sie, wie grausam die feine Gesellschaft sein konnte. In London hatte man sie nie ganz akzeptiert. Jetzt würde es auch keine Einladungen mehr zu einem Wochenende, einem Abendessen oder einem Ball auf dem Land geben. Keine ihrer alten Freundinnen würde mit ihr reden, falls sie ihr im Dorf oder auf der Straße zufällig begegneten. Man würde sie restlos schneiden. Die Leute würden durch sie hindurchschauen und tun, als wäre sie gar nicht vorhanden.
Für beide Welten - jene, in die sie geboren worden war, und jene, in die sie geheiratet hatte - existierte sie nicht mehr. Sie war so gut wie tot.
Was sollte sie jetzt tun? Diesmal waren ihre Tränen echt. Ciarisse hatte entsetzliche Angst. Was für eine Zukunft stand ihr bevor? Selbst wenn sie die Wahrheit über ihren damaligen Liebhaber erzählte, würde es sie in den Augen der Gesellschaft nicht rehabilitieren. Wahrscheinlich wäre der Adel entsetzt, und der Klatsch würde alles noch schlimmer machen.
Ciarisse wußte, daß sie am Ende
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