010 - Skandal in Waverly Hall
nicht."
Er legte den Arm um sie. „Hat Dominick dir etwas getan?"
„Das nicht gerade."
„Laß uns einen Spaziergang machen."
Anne stimmte ihrem Vetter zu, und sie gingen ein Stück über den feuchten Rasen.
Das Licht, das aus dem Haus fiel, leitete ihre Schritte. Patrick ließ den Arm auf ihrer Schulter liegen, und Anne wurde es unbehaglich bei dieser Geste. Sie wußte sehr gut, was er für sie empfand. Obwohl er sich ihr nie erklärt hatte, war sie ziemlich sicher, daß er sie liebte.
Wahrscheinlich war er deswegen all die Jahre ständig an ihrer Seite geblieben.
Neben dem Herrenhaus lag ein kleiner Irrgarten. Schweigend traten sie ein.
Nachdem sie von der übrigen Welt abgeschirmt waren, drehte Patrick sich zu Anne und faßte sie bei den Armen. „Weiß Dominick von dem Treuhandfonds?"
Sie nickte. „Er ist furchtbar wütend darüber."
Ein seltsamer Ausdruck glitt über Patricks Gesicht, den sie nicht deuten konnte. „Das ist eine völlig neue Situation für ihn. Bisher hat er stets alles bekommen, was er wollte. Es muß ein ziemlicher Schock für ihn gewesen sein."
„Das klingt beinahe, als würdest du dich darüber freuen."
„Ich freue mich nicht darüber, sondern ich sage die Wahrheit", erklärte Patrick.
„Was hat er vor? Wird er wieder abreisen?"
„Ich weiß es nicht", antwortete Anne. „Dominick hat angedeutet, daß er seine Pläne ändern möchte - daß er bleiben will. Aber das war, bevor ich ihm von dem Treuhandfonds erzählte."
„Ich könnte mir vorstellen, daß er den Verlust nicht einfach hinnehmen wird", murmelte er. „Ich mache mir deinetwegen Sorgen, Anne."
Anne blickte in Patricks schönes Gesicht und bemerkte die tiefe Besorgnis in seinen Augen. Wie oft hatte sie dem Vetter in den letzten Jahren ihr Leid geklagt. Sie hätte ihm auch jetzt gern ihr Herz ausgeschüttet. Aber was sollte sie sagen? Sie hatte viel zuviel Angst, sich die eigenen Gefühle einzugestehen.
Anne strich mit den Fingerspitzen über ihre Augen. Patrick seufzte leise und zog sie in die Arme. Es geschah nicht zum erstenmal. Aber diesmal lehnte Anne sich an ihn und legte den Kopf auf seine Schulter.
Patrick verstärkte seinen Griff. „Laß dich nicht von ihm anfassen, Anne!"
Sie erstarrte ein wenig und wollte sich losmachen. Doch Patrick gab sie nicht frei.
Besorgt sah sie ihn an.
„Er hat dich schon einmal benutzt", erinnerte er sie. „Und er wird es erneut tun oder zumindest versuchen. Ich habe gemerkt, wie er dich im Salon ansah. Seine Absichten sind alles andere als ehrenhaft."
Anne löste sich aus seinen Armen. „Jetzt gehst du zu weit, Patrick."
„Anne ..."
„Nein! Ich bin eine erwachsene Frau und kann meine Angelegenheiten allein regeln - auch meine Ehe."
„Bist du sicher?" Patrick verzog den Mund. „Ich fürchte, du überschätzt dich, meine Liebe. Bisher hattest du kaum Gelegenheit, etwas für deine Ehe zu tun. Dominick hat dich unmittelbar nach der Hochzeit verlassen. Und wer hat dich in den folgenden Monaten getröstet? Wer hat dich beraten?"
Anne verzog das Gesicht. „Du bist ein sehr guter Freund, Patrick, daran zweifle ich nicht. Mir ist durchaus klar, daß ich es ohne deine Hilfe erheblich schwerer gehabt hätte."
Leicht war ihr Leben trotzdem nicht gewesen. So einsam und verlassen wollte Anne sich nie wieder fühlen. Schon vor langer Zeit hatte sie beschlossen, ihr Herz keinesfalls noch einmal einem Mann zu schenken, der sie angeblich liebte.
„Schließ mich jetzt nicht aus", bat Patrick leise. „Du bist ein gefundenes Fressen für einen Mann wie Dominick St. Georges. Er besitzt keine Moral und wird dich erneut benutzen, wenn du es zuläßt."
Anne holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Doch es gelang ihr nicht. „Ich werde absolut nichts zulassen, Patrick. Übrigens: Bist du nicht ein bißchen unfair gegenüber Dominick?" Ihre Stimme klang etwas verbittert. „Ich dachte, ihr beide wäret Freunde."
„Wir standen uns einmal sehr nahe", gab Patrick zu und verzog das Gesicht. „Als kleine Jungen spielten wir zusammen in Waverly Hall, wie du weißt, und anschließend gingen wir gemeinsam nach Eton und Cambridge. Auf der Universität verkehrten wir allerdings in unterschiedlichen Kreisen. Seitdem haben sich unsere Wege nur noch selten gekreuzt. Trotzdem betrachtete ich Dominick weiterhin als meinen Freund."
„Dann solltest du nicht so schnell den Stab über ihn brechen", erklärte Anne scharf.
„Er hat eine Geliebte", grollte Patrick. „Das ist dir
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