010 - Skandal in Waverly Hall
den Collins' aufgetaucht.
Der Herzog hatte sich zunächst nicht um ihre Anwesenheit gekümmert. Er hatte sie nicht kennenlernen und schon gar nicht lieben wollen. Seiner Ansicht nach trug sie ebensoviel Schuld an Janices Tod wie Fred Stewart.
Doch eines Tages hatte seine Neugier die Oberhand gewonnen, und er hatte das Mädchen zu sich gerufen. Ein einziger Blick auf das kleine, vor Gram gebeugte Kind hatte genügt, und sein Herz hatte sich für Anne geöffnet. Behutsam hatte er dafür gesorgt, daß er stets wußte, wie es ihr ging. Während sie älter wurde, hatte er festgestellt, daß sie genau wie ihre Mutter war, nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Herzen und ihrer Seele. Sie besaß einen warmes, großherziges und aufrichtiges Wesen.
Ja, der Herzog war ein Romantiker, aber er war auch ein Realist. Schon vor Jahren war er zu der Überzeugung gekommen, daß Dominick und Anne füreinander bestimmt waren. Nicht, weil sie gut zusammenpaßten oder weil Anne unsterblich in Dominick verliebt war. Nein, es hatte einen rein egoistischen Grund, den er eisern geheimhielt.
Deshalb tat Rutherford einen stummen Schwur. Er würde alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um die beiden wieder zusammenzubringen. Schließlich war er einer der mächtigsten Männer des Landes. Vielleicht war es die letzte sinnvolle Tat, die er vor seinem Tod vollbringen konnte. Er würde dafür sorgen, daß Dominick und Anne sich versöhnten. Das war seine einzige Möglichkeit, die sehr persönliche Schuld gegenüber Janice Stanhope Stewart nachträglich zu begleichen.
Dominick war zurück. Mit zitternden Händen setzte Anne ihre Lesebrille wieder auf.
Er war zurückgekehrt. Sie war nicht sicher gewesen, ob er tatsächlich kommen würde.
Sie konnte sich noch so oft einreden, daß sie verärgert wäre. Es traf nur zum Teil zu.
Es gelang ihr nicht, sich auf die schriftliche Beschwerde zu konzentrieren, die ihr ein Pächter zugestellt hatte. Immer wieder glitt ihr Blick zum Fenster, und ihr Herz pochte unregelmäßig. Dominick war nicht mehr zu sehen. Aber er war noch draußen und unterhielt sich mit dem anderen Gentleman, denn sie hörte leise Stimmen.
Sein tiefes Lachen drang zu ihr herein. Es klang warm, herzlich - und sehr verführerisch.
Erotische Bilder von jener leidenschaftlichen Nacht tauchten vor ihrem inneren Auge auf.
Entschlossen stand Anne auf. Sie setzte ihre Brille ab und glättete ihr Haar, das zu einem Knoten geschlungen war. Do-minick hatte zahlreiche Rennpferde mitgebracht. Also wollte er wirklich bleiben, obwohl sie ihm eindeutig klargemacht hatte, daß er unerwünscht war. Er hatte ihr ein Angebot gemacht und würde eine Antwort von ihr erwarten.
Anne holte tief Luft und faßte einen Entschluß. Sie hatte es nicht nötig, sich in ihrem Arbeitszimmer zu verbergen.
Dominick und sein Freund standen an einer der Koppeln, als sie ins Freie trat. Ein bildhübscher schwarzer Junghengst, den Anne auf etwa drei Jahre schätzte, trabte darin im Kreis. Er hatte stolz den Schweif erhoben und streckte ihn wie ein Banner hinter sich aus. Er wieherte und fiel in einen Galopp. Anne kannte sich mit Pferden aus. Der Junghengst spielte sich eindeutig auf.
„Wenn er doch auch so fügsam wäre, wenn ein Reiter auf seinem Rücken sitzt", meinte Dominick trocken.
„Zum Glück hast du einen Jockey gefunden, der mit ihm fertig wird", antwortete sein Freund.
„Ja. Deshalb sollte er von nun an seine Rennen gewinnen."
Anne konnte nicht umhin, den jungen Hengst zu bewundern, während sie der kurzen Unterhaltung zwischen den beiden Männer lauschte. Das Tier war extra für Pferderennen gezüchtet worden. Es hatte hervorragende Eigenschaften und sah wie ein künftiger Sieger aus.
Dominick drehte sich zu ihr. „Guten Tag, Anne", sagte er und ließ den Blick Zentimeter für Zentimeter über ihren Körper gleiten.
Anne drehte sich zu ihrem Mann und vergaß das Pferd sofort. „Guten Tag, Dominick", antwortete sie äußerst höflich. Mit beiden Händen glättete sie ihre Röcke und errötete ein wenig, weil Dominick sie nicht aus den Augen ließ. Sie wußte genau, was in ihm vorging. Er erinnerte sich ebenso wie sie an jene Nacht.
„Darf ich dir meinen Freund vorstellen, Theodore Blake? Er ist der zweite Sohn des Earl of Harding", fuhr Dominick fort.
Anne lächelte Blake zur Begrüßung zu. Bei ihrem Mann hatte sie keine Miene verzogen.
Blake nahm ihre Hand und hob sie an die Lippen. Sein Blick war warm und voller Bewunderung.
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