010 - Skandal in Waverly Hall
spürte Anne Dominicks Nähe und straffte sich unwillkürlich.
„Na, unterhältst du dich gerade mit dem Pferd über meinen Vorschlag?" fragte er leise, und sein Atem fächelte über ihren Nacken.
Anne drehte sich um, und das war ein Fehler, wie sich herausstellte. Dominick stand so dicht vor ihr, daß ihre Röcke seine Beine berührten. Sie konnte nicht zurückweichen, denn der Koppelzaun drückte sich in ihren Rücken. „Dein Vorschlag?" wiederholte sie und zuckte mit den Schultern, als erinnerte sie sich nicht mehr an seinen schockierenden Plan.
Dabei wußte sie genau, wovon er sprach.
Eine Woche sollte sie mit Dominick verbringen und in dieser Zeit alles tun, was er von ihr verlangte. Und sie ahnte, was er von ihr wollte.
„Nun?" fragte Dominick.
„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht", log Anne. In Wirklichkeit hatte sie seit seiner Abreise an nichts anderes denken können.
„Dann tu es jetzt", forderte er sie auf und ließ sie nicht aus den Augen.
Ciarisse hatte eine neue Zimmerflucht im Südflügel von Wa-verly Hall bezogen. Seit ihrer Hochzeit vor neunundzwanzig Jahren hatte sie mit Philip den Westflügel bewohnt. Jetzt war sie in die Witwenräume gewechselt, wie man es von ihr erwartete.
Sie verließ ihr Zimmer, und ihr Herz klopfte vor Erregung. Mit einer Hand drückte sie Philips Tagebuch an die Brust.
Vor der offenen Tür der Bibliothek blieb sie stehen. Der Duke of Rutherford stand mit dem Rücken zu ihr und blickte aus dem Fenster nach draußen. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie wußte, daß Dominick gerade zurückgekehrt war. „Ich möchte mit Ihnen sprechen", begann sie kühl.
Rutherford drehte sich um. Sein Lächeln war nicht besonders freundlich. Aber seine Schwiegertochter und er waren auch keine Freunde. „Darf ich hereinkommen?" fragte Clarisse höflich.
„Treten Sie ein." Er nickte, und sein Blick fiel auf den Lederband in ihrer Hand. „Was ist das, Ciarisse?"
Ihr Lächeln erstarb. „Philips Tagebuch, natürlich." Ihre Augen glänzten ungewöhnlich stark.
„Hat Dominick es Ihnen zu lesen gegeben?" Rutherford sah sie eindringlich an.
Ciarisse hielt seinem Blick stand und antwortete, ohne zu zögern: „Nein, ich habe es mir ausgeliehen."
„Verstehe. Sie haben es ohne seine Erlaubnis an sich genommen. "
„Ja. Offensichtlich hat er nicht bemerkt, daß es fehlte. Er reiste ziemlich überstürzt ab. Ist es Ihnen völlig gleichgültig?" rief sie anklagend.
Mit eisiger Miene durchquerte der Herzog die Bibliothek, schloß die Tür und blieb vor ihr stehen. „Sie wissen genau, wieviel ich für Dominick empfinde."
Ciarisses Stimme wurde lauter. „Das meine ich nicht!" schrie sie. Es kam selten vor, daß sie die Beherrschung verlor und Rutherford ihren Haß spüren ließ. Jetzt war es der Fall. „Ist Ihnen völlig gleichgültig, was Ihr Sohn seinem Tagebuch anvertraut hat?"
„Natürlich ist es mir nicht gleichgültig."
„Philip wußte alles."
Der Herzog zuckte nicht einmal mit der Wimper.
„Er spricht es nicht direkt aus, macht aber zahlreiche Bemerkungen, aus denen hervorgeht, daß er es wußte. Außerdem verabscheute er die ganze Familie."
„Das war mir immer klar."
Ciarisse keuchte unwillkürlich. Trotzdem fuhr sie fort: „Auch daß er Sie am meisten von allen verabscheute?"
Diesmal glitt ein Anflug von Ärger über Rutherfords Gesicht. „Ja, das wußte ich ebenfalls. Geben Sie Dominick das Tagebuch zurück."
Ciarisse war entsetzt. „Meine Güte, Sie haben den Verstand verloren. Sie wollen, daß er es erfährt!"
„Vielleicht will ich das wirklich."
„Nein, das kommt nicht in Frage." Ciarisse schüttelte energisch den Kopf. „Ich werde das Tagebuch verbrennen. Sie sind ein Narr!"
Rutherford zögerte einen Moment. Manchmal war es besser, schlafende Hunde nicht zu wecken. Andererseits war er ein alter Mann und bedauerte zahlreiche Dinge seines Lebens. Wenn er starb, bevor sein Enkel alles wußte, würde Dominick die ganze Wahrheit nie erfahren. Ciarisse würde das Geheimnis für immer mit ins Grab nehmen.
„Ich glaube, dies ist Philips Rache", sagte Ciarisse hitzig. „Es ist seine Rache an uns allen. An Ihnen, an mir, an Domi-nick - an der ganzen Welt. Er war ein verbitterter, haßerfüllter Mensch. Die Selbstbeherrschung, mit der er sein Wissen vor allen verbarg, macht mir noch nachträglich angst. Kein Wunder, daß er ständig auf Reisen war. Er haßte Waverly Hall ebenso wie uns."
Ein Muskel zuckte in Rutherfords Wange. Er mußte sich jetzt
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