010 - Skandal in Waverly Hall
ganz auf seinen Instinkt verlassen. „Geben Sie Domi-nick das Tagebuch zurück, Ciarisse."
Ciarisse drückte das Buch fest an die Brust. „Nein, es muß vernichtet werden."
„Weshalb? Weil Sie mehr zu verlieren haben als alle anderen?" Er kniff die Augen ein wenig zusammen. „Geben Sie Dominick das Tagebuch zurück", wiederholte er.
Entschlossen ging er an ihr vorüber und verließ die Bibliothek.
Ciarisse sah ihm nach. Tränen traten ihr in die Augen. Wie sie den Herzog verabscheute. Aber er war einer der mächtigsten Männer des Landes und nur der Königin und Gott gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet. Nicht einmal sie wagte es, sich ihm zu widersetzen, so gern sie es getan hätte.
Aber eines Tages würde sie sich an ihm rächen. Seit neunundzwanzig Jahren wartete sie sehnsüchtig auf den richtigen Augenblick dafür.
Als Anne herunterkam, hatten sich alle schon im Salon versammelt. Sie entdeckte Dominick sofort. Er lehnte an dem Marmorsims über dem Kamin und unterhielt sich mit Blake. Die beiden Männer hielt ein Glas Sherry in der Hand. Felicity war bei ihnen. Ihre weiten Röcke aus goldgelber Seide berührten Dominicks Beine. Sie lachte über jedes Wort, das er sprach. Ihr Kleid war so tief ausgeschnitten, daß sie bei jedem Atemzug in Gefahr geriet, halbnackt dazustehen.
Anne gab sich große Mühe, gelassen zu bleiben.
Rutherford saß auf dem Goldbrokatsofa und redete mit Patrick. Der Vetter hielt mitten im Satz inne, als er sie entdeckte, und lächelte freundlich. Sie war sicher, daß er Felicity nach Waverly Hall begleitet hatte, obwohl eine Witwe auch allein bei einem Abendessen erscheinen durfte, wenn sie es wünschte. Plötzlich war sie sehr froh, daß er gekommen war.
Anne betrat den Salon. Sie sah nicht zu Dominick und seiner Gruppe hinüber. Doch sie spürte, daß er sie beobachtete.
Statt dessen ging sie direkt zum Herzog und knickste kurz. „Guten Abend, Euer Gnaden."
Rutherford stand mühsam auf. „Guten Abend, Anne." Er küßte sie auf die Wange.
Anne wandte sich an Patrick. „Das ist ja eine Überraschung."
„Eine gute, will ich hoffen."
„Eine wunderbare", erwiderte sie strahlend und merkte, daß Dominick zu ihnen herüberblickte. Seine unbekümmertes Lächeln war verschwunden.
Anne strahlte noch mehr. „Es ist schon eine ganze Weile her, seit du das letzte Mal bei uns zum Dinner warst. Begleitest du mich zu Tisch?"
„Mit dem größten Vergnügen", antwortete Patrick und reichte ihr den Arm.
Befriedigt stellte Anne fest, daß Dominick sich furchtbar ärgerte. Eine winzige Stimme in ihrem Inneren warnte sie, daß sie sich ziemlich kindisch verhielt - schlimmer noch: wie Felicity. Aber sie hatte vorher noch nie geflirtet. Und sie hatte noch nie erlebt, daß Dominick sie mit unverhohlener Eifersucht beobachtete. Es war ein schwindelerregendes Gefühl.
Wie kann Dominick eifersüchtig auf mich sein? überlegte Anne. Das würde bedeuten, daß er etwas für mich empfindet - selbst wenn es nicht viel mehr als männlicher Besitzanspruch ist.
Sie verstand überhaupt nichts mehr.
Dominick kehrte ihr inzwischen den Rücken zu. Felicity flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Ihre Lippen streifen beinahe seine Wange, stellte Anne bestürzt fest.
Ihre Befriedigung verflog augenblicklich. Trotz ihrer gespielten Tapferkeit gegenüber Dominick war sie keineswegs eine welterfahrene Frau. Sie war nicht kokett.
Außerdem hatte die Natur sie nicht mit jenen Attributen ausgestattet, die Männer besonders zu schätzen schienen. Hinzu kam, daß sie aus Achtung vor ihrem verstorbenen Schwiegervater von Kopf bis Fuß in häßliches Schwarz gekleidet war.
Sie mußte den Verstand verloren haben, wenn sie auch nur einen Moment geglaubt hatte, sie könnte Dominick St. Georges eifersüchtig machen. Nicht wenn eine Frau wie Felicity an seinem Arm hing. Nicht wenn eine französische Schauspielerin in London auf ihn wartete. Außerdem hatte er zwei Kinder von einer früheren Mätresse.
Rutherford trat zu ihr. Er legte den Arm um sie und führte sie von Patrick fort.
„Deine Gefühle sind dir ins Gesicht geschrieben, meine Liebe", sagte er leise.
„Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?" fragte Anne mit belegter Stimme. Sie war den Tränen nahe und räusperte sich verlegen „Nein, schlimmer. Ich bin ein entsetzlicher Dummkopf", sagte sie wütend.
„Das glaube ich nicht, Anne. Felicity ist der Dummkopf", antwortete der Herzog.
„Sie ist eine wunderschöne Frau, und ich bin völlig
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