010 - Skandal in Waverly Hall
unscheinbar. Sie hat das große Los gezogen. Dominick findet mich kaum eines Gedankens wert."
„Im Gegenteil. Mir scheint, er ist furchtbar eifersüchtig auf deine Freundschaft mit Patrick."
Eine leise Hoffnung keimte in Anne auf. Aber sie wollte keine Hoffnung - zumindest nicht, soweit sie ihren Ehemann betraf. „Diesen Eindruck hatte ich im ersten Moment auch", gab sie zu. „Bis mir klar wurde, was für ein unsinniger Gedanke es war."
„Es ist kein unsinniger Gedanke, Anne." Rutherford tätschelte ihre Schulter. „Du bist eine entzückende Frau, meine Liebe. Entzückender als die meisten anderen Frauen und entschieden entzückender als deine oberflächliche Cousine. Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich, und Janice war zu ihrer Zeit bildhübsch."
„Finden Sie wirklich, daß ich wie meine Mutter aussehe?" Sie konnte es kaum glauben.
„Ja, unbedingt. Felicity ähnelt dagegen Edna, sowohl äußerlich als auch dem Wesen nach. Dominick ist kein Dummkopf, Anne."
Anne wußte nicht, was sie von den Worten des Herzogs halten sollte. Sie drehte sich ein wenig, damit sie Dominick sehen konnte. Er beobachtete sie schon wieder eindringlich. Ihre Blicke begegneten sich, und sie bekam kaum noch Luft.
„Möchtest du einen Rat?" fragte Rutherford freundlich.
Sie nickte.
„An deiner Stelle würde ich so weitermachen wie bisher und nicht mehr an Felicity denken. Sie reicht in hundert Jahren nicht an dich heran."
Anne lächelte freudlos. „Sie sind sehr liebenswürdig, Sir."
„Nein, ich bin ein alter Mann. Und alte Männer sind meistens aufrichtig, denn ihnen bleibt wenig Zeit zum Lügen."
„Bitte, sprechen Sie nicht so", sagte sie bestürzt.
„Weshalb nicht? Ich habe keine Angst vor dem Sterben, Anne. Mein Leben war sehr schön."
Anne wußte nicht, was sie sagen sollte. Der Blick des Herzogs schien weit in die Ferne zu schweifen. Wahrscheinlich dachte er an seine Frau, die so früh verstorbene Duchess. Es war allgemein bekannt, daß er nicht wieder geheiratet hatte, weil er den Verlust seiner ersten Frau nicht verwinden konnte.
„Ich wünschte, ich hätte die Herzogin gekannt", sagte sie leise. „Wie war sie?"
Rutherford erschrak, und seine Augen wurden wieder klar. „Sarah? Sie war eine gute Ehefrau und eine ausgezeichnete Mutter. Man könnte sagen, sie war sanft und warm wie ein schöner Spätfrühlingstag. Ich war ziemlich überrascht, als ich deine Mutter einige Monate vor dem Debütantinnenball kennenlernte, den ich für sie ausrichten wollte." Er hüstelte ein wenig. „Äußerlich ähnelten die beiden Schwestern sich sehr. Dennoch unterschieden sie sich wie Tag und Nacht. Ich merkte bald, weshalb. Sarahs Wesen war sanft und ruhig. Janice glich dagegen einem hellen Licht, einem funkelnden Stern. Sie war warmherzig, großzügig und manchmal fast zu aufrichtig. Sie strahlte stets und war immer fröhlich. Alle mochten sie. Männer und Frauen, Junge und Alte und auch die Kinder. Sie wünschte sich verzweifelt eigene Kinder, mußt du wissen."
Anne war sprachlos. In all den Jahren, die sie den Herzog kannte, hatte sie ihn noch nie so reden hören.
Er lächelte versonnen. „Obwohl sie zwölf Jahre trennten, hingen die beiden Schwestern sehr aneinander. Janice verehrte Sarah, und Sarah vergötterte ihre jüngste Schwester. Sie hegte große Hoffnungen für deine Mutter, mußt du wissen.
Janice hätte einen Aristokraten heiraten können. Sie hätte jeden Mann bekommen, den sie wollte. Sie war die Königin der Debütantinnen ihres Jahrgangs und erhielt Dutzende von Heiratsanträgen. Doch sie schlug alle aus." Sein Lächeln erstarb.
„Das wußte ich nicht", flüsterte Anne und sah den Herzog mit großen Augen an.
Er preßte die Zähnen kurz zusammen. „Es brach Sarah beinahe das Herz, als Janice davonlief. Sie war erst achtzehn und hinterließ nichts als eine kurze Nachricht für ihre Schwester und mich. Wie du weißt, ist Sarah im Jahr darauf gestorben."
„Und meine Mutter heiratete meinen Vater."
„Ja", antwortete der Herzog grimmig. „Es tut mir leid, Anne. Ich weiß, daß du deinen Vater geliebt hast und ihn sehr vermißt. Aber Janice hätte ein besseres Los verdient gehabt als das Wanderleben mit ihm."
„Mein Vater hat meine Mutter geliebt", flüsterte Anne und ließ den Herzog nicht aus den Augen.
Er seufzte schwer. „Alle liebten sie", sagte er.
Anne stutzte plötzlich. Hatte Rutherford Janice ebenfalls geliebt - aber weit mehr, als es schicklich gewesen wäre?
Das Abendessen war
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