0101 - Die Menschentiger
Pingala, der große Sonnenstrom«, sagte sie und ging weiter.
Da blieb Nicole auf einmal stehen. Sie umkrallte Zamorras Arm.
»Still, Chef! Hörst du nichts?«
Professor Zamorra horchte gespannt nach vorne, wo sich, von einer kolossalen Statue der Göttin Bhairab verdeckt, ein Gang in die Finsternis zog.
Die Fackeln knisterten — sonst Totenstille.
Eine lauernde Stille, die das Haar sträubt, wo die Seele bebt und fühlt, daß etwas geheimnisvoll Grauenhaftes blitzartig ins Leben bricht wie eine Explosion und nun unabwendbar eine Folge todbringender Dinge aus dem Dunkel des Unbekannten, aus Ecken und Nischen emporschnellen läßt.
In solchen Sekunden ringt sich stöhnende Angst aus dem rhythmischen Hämmern des Herzens — wortähnlich wie das gurgelnde, schauerliche Lallen eines Taubstummen.
Zamorra lauschte vergebens. Kein Geräusch mehr.
»Es klang wie ein Schrei tief in der Erde«, wisperte Nicole an seiner Seite. Der Druck ihrer Fingernägel hatte sich noch verstärkt.
Zamorra schien es, als ob das Steinbild der Kala Bhairab, des Choleradämons, sich bewegte: unter dem zuckenden Licht der Fackel schwankten die sechs Arme des Ungeheuers, und die schwarz und weiß bemalten Augen flackerten wie der Blick eines Irrsinnigen. Zu ihren Füßen schrumpften die Schatten auf dem weißen Felsboden zu krötenähnlichen phantastischen Flächen zusammen.
Shurina sah sie fragend an.
»Miß Nicole glaubte, etwas gehört zu haben«, sagte Zamorra, und seine Stimme klang hohl zwischen den Wänden.
Ihre Führerin nickte nur stumm.
»Könnte durchaus sein«, meinte sie. »Rahndra ist in der Nähe. Sie betet. Wir könnten sie gleich mitnehmen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt sie weiter. Unter dem langen Seidensari konnte man ihre Füße nicht sehen. Das war schon kein Schreiten mehr. Sie schien zu schweben.
Dann schrak auch Zamorra entsetzt zusammen. Ein gräßlicher Schrei drang aus dem Tempel — ein kurzes, dreifaches Aufbrüllen mit dem Echo wie von zerschellendem Glas und Metall.
Shurina zuckte nicht einmal zusammen.
Zamorra riß eine der Fackeln von der Wand, hielt sie abwehrbereit wie ein Schwert, und er drängte sich hinter Shurina her und hinein in das Dunkel.
Doch dann warf Zamorra die Fackel fort, denn der Gang mündete in eine künstliche Schlucht ohne Deckenwölbung, die, von grellem Mondlicht beschienen, in eine Grotte führte.
Feuerschein loderte hinter den Säulen hervor, und von den Schatten gedeckt traten sie näher.
Flammen zuckten von einem niedrigen Opferstein, und in ihrem Lichtkreis bewegte sich taumelnd ein Mädchen, behängt mit grellbunten Fetzen auf nackter Haut und Knochenketten der bengalischen Dhurgaanbeter. Ein Opfertanz für Dhurga, die Vernichterin allen organischen Lebens.
Das Mädchen war in einer Beschwörung begriffen und warf unter schluchzendem Winseln den Kopf nach der Art der tanzenden Derwische mit rasender Schnelle nach rechts und links, dann wieder in den Nacken, daß die weißen Zähne im Licht blitzten. Sie war sichtlich in Trance, nahm überhaupt keine Notiz davon, daß sie beobachtet wurde.
Nicole drückte ihre langen Fingernägel durch den Stoff seiner zerschlissenen Strickjacke. Zamorra rann es warm den Oberarm hinab, doch er achtete nicht darauf.
Er war voll von dieser Szene gefangen, wie sie sich ihm ähnlich zuvor noch nie geboten hatte. Er erlag der Faszination dieses Anblicks.
Nicole ließ ihn endlich los und hob ihre kleine Faust vor den weitgeöffneten Mund, um ihren Schrei zu ersticken. Shurina stand nur regungslos da und sagte nichts. Dabei mußte sie bemerken, welche Wirkung dieser Tanz auf die beiden haben mußte.
Professor Zamorra sog die Szenerie förmlich in sich auf. Seine Augen tranken das, was er sah, und er wurde auf eine geheimnisvolle Weise auch trunken davon. Er starrte angestrengt auf das Mädchen.
Das, was er auf den ersten Blick für Stoffetzen gehalten hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Streifen von Tigerfellen, die zu einer Art Lendenschurz zusammengebunden waren, einem Hularock nicht ganz unähnlich.
Diese Fellstreifen trug sie auch um den Hals. Im Rhythmus ihres lautlosen ekstatischen Tanzes kamen immer wieder die wippenden festen kleinen Brüste zum Vorschein, die im Feuerschein wie Halbkugeln aus poliertem Kupfer glänzten.
Ihre Figur war so makellos wie das Ebenmaß ihres ovalen Gesichtes. Im Westen hätte dieses Mädchen innerhalb kürzester Zeit eine beispiellose Karriere als Fotomodell machen können.
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