0109 - Das Alptraum-Mädchen
das eigentlich gar nicht nötig wäre. Deine Gedanken bergen keine Geheimnisse mehr vor mir. James Halbridge heißt also der Mann, der hinter euch kleinen Zuhältern steht. Aber vielleicht könntest du mir doch noch einiges erzählen. Wie wär’s?«
Und Tom Shafer begann zu reden, redete schneller und schneller, spuckte jedes Geheimnis aus, das ihm in den Sinn kam, und Carina Fleetwood horchte ihm, wie es schien, angestrengt zu. Ab und zu nickte sie beifällig. Wenn Tom Shafer sich in der Eile versprach, korrigierte sie ihn.
Danach war Tom Shafer nur mehr ein Schatten seiner selbst. Abgekämpft und kraftlos hing er im Sessel, die Beine weit von sich gestreckt, das Hemd, den Anzug und die Hosen vom Schweiß durchnäßt.
»Das war alles«, sagte er matt. »Kann ich jetzt gehen?«
»Natürlich kannst du das, Tommy-Boy. Geh nur.«
Er rappelte sich hoch, holte ein paarmal tief Luft, so schwach und ausgelaugt fühlte er sich jetzt. Er wankte, als er auf die Tür zuging.
»Ich habe nicht gesagt, daß du mein Apartment durch die Tür verlassen sollst«, sagte diese montone Stimme in seinem Rücken.
»Wie sonst?« fragte Tom Shafer ängstlich zurück.
»Durch das Fenster, zum Beispiel, Tommy-Boy…«
»Nein…!« schrülte der Mann und griff sich an den Hals, an dem er den beigegesprenkelten Binder schon längst lockergezogen hatte. »Das hier ist der sechste Stock!«
»Ich weiß«, sagte die Frau.
»Ich werde mir das Genick brechen!«
»Natürlich, Tommy-Boy. Genau das wirst du. Und nicht nur das Genick.«
»Carina! Ich flehe dich an! Ich…«
Was er noch sagen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken, denn die lebende Tote hatten ihren häßlichen Mund geöffnet.
Er sah genau, daß sich neblige Gebilde aus diesem Mund schlängelten, auf ihn zukamen und ihn umschwärmten. Sie schienen auf einen Befehl zu warten.
Er kam auch.
»Durch das Fenster mit ihm«, sagte Carina Fleetwood, ein Geschöpf, von Marucs Dämonen an einem widernatürlichen Leben erhalten.
Tom Shafer fühlte sich gepackt und hochgehoben. Die Scheibe kam mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu.
Dann ein Splittern, reißende Schmerzen, und dann das Pflaster, das unaufhaltsam näherkam.
Sein Todesschrei endete abrupt, als er unten aufschlug…
***
Maruc, der Magier, war ebenfalls schweißgebadet.
Er saß in seiner Kammer, die das Callgril als grottenähnlich bezeichnet hatte. Wieder war er nur mit seinem Lendenschurz bekleidet. Er hatte sich Farbe über die Narben gestrichen, die ihm als Kind von seinem Vater, dem Medizinmann, bei den Initiationsriten in die Haut geritzt Worden waren.
Die Trommeln schwiegen diesmal. Maruc Nbowana saß mit gekreuzten Beinen. Sein kugeliger Bauch lag auf den feisten Oberschenkeln auf. Er atmete schwer. Es kostete eine Menge Anstrengung, das Wesen seiner Dämonen aus der Ferne zu dirigieren.
Er hatte aufgenommen, was dieser Gangster dem Callgirl erzählt hatte. Unauslöschlich hatte sich jede Einzelheit in sein Gedächtnis eingeprägt.
Trotz der Müdigkeit, die seine Glieder schwer wie Blei machte, brachte er ein zufriedenes Grinsen zustande. Alles hatte sich viel besser angelassen, als er jemals zu hoffen gewagt hatte.
Seine Erinnerungen glitten in jene Zeiten zurück, als er noch ein Jugendlicher war und neben der Missionsschule auch den Unterricht seines Vaters genoß. Er hatte ihm das Rüstzeug mit auf den Weg gegeben, das ihn nun zum Hervorrufen von derartigen Phänomenen befähigte.
Auch erinnerte er sich an die Warnungen Krupa Nbowanas: »Beschwöre die heiligen Daggas, die Geister unserer Ahnen, nie zur Wahrung deines eigenen Vorteils…«
Maruc Nbowana hatte nur ein mitleidiges Lächeln für diese Warnung übrig. Er glaubte inzwischen alles besser zu wissen. Die Daggas arbeiteten für ihn und zu seinem Nutzen.
Bis vor zwei Tagen hatte Maruc selbst nicht recht daran geglaubt, daß die Formeln und magischen Riten, das mündlich überlieferte Erbe seines primitiven Erzeugers, wirklich funktionieren würden.
Doch die Not hatte ihn dazu gezwungen, auch das Hoffnungslose zu versuchen.
Als sein Land in die Unabhängigkeit entlassen worden war, bekam er ein Stipendium für den Besuch einer europäischen Universität. Dank seiner überragenden Intelligenz schaffte er alle Prüfungen, graduierte sogar zum Diplom-Volkswirt und war damit für einen Posten im Auswärtigen Dienst prädestiniert.
In seinem Land gab es nicht viele Fachkräfte. Als die Kolonialmacht abgezogen war, hatte sie einen
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