013 - Der Mann, der alles wußte
erkannte sie sofort die Stimme ihres Onkels.
»Hallo, was machst du denn in der Stadt?«
»Ich habe eine wichtige Verabredung«, erwiderte John Minute. »Aber ich wollte dich fragen, ob du um ein Uhr dreißig im Savoy-Hotel mit mir zu Mittag essen willst?«
Er wartete kaum auf ihre Antwort, denn er setzte ihre Einwilligung als selbstverständlich voraus.
Der Polizeipräsident legte das Buch auf den Tisch, das er aus dem Bücherregal genommen hatte, wandte sich um und lächelte seinen etwas verwunderten und nervösen Besucher merkwürdig an.
John Minute, der ihm am Schreibtisch gegenübersaß, trug einen Anzug von etwas auffallendem Muster, der allerdings ausgezeichnet saß.
Er war von mittlerer Größe und hatte ein ungewöhnliches Gesicht mit etwas groben Zügen, einer dicken Nase und unregelmäßigen Lippen. Das stark entwickelte Kinn zeugte davon, daß er sich durch ein schweres Leben durchgekämpft hatte. Seine blauen Augen hatten einen kalten Blick, sein graues Haar war nicht im mindesten gelichtet. Aus der Entfernung machte er den Eindruck eines gepflegten, kultivierten Menschen, in der Nähe wirkte sein rotes Gesicht aber eher abstoßend als anziehend.
»Sie sehen, Mr. Minute, daß wir in unseren Machtmitteln sehr beschränkt sind«, sagte Sir George liebenswürdig. »Persönlich würde ich Ihnen sehr gern helfen - nicht nur, weil es meine Pflicht ist, allen Leuten beizustehen, sondern ganz besonders, weil Sie meinen Sohn in Südafrika so freundlich unterstützt, haben. Die Empfehlungsbriefe, die Sie ihm mitgaben, waren von großem Vorteil für ihn.«
Der Sohn des Polizeipräsidenten war in Rhodesien und in Barotse-Land auf die Jagd gegangen und hatte zufällig bei einem Essen die Bekanntschaft des Millionärs gemacht.
»Aber die Macht von Scotland Yard hat ihre Grenzen«, fuhr Sir George bedauernd fort. »Es ist uns unmöglich, zu helfen, wenn nur Befürchtungen vorliegen. Wenn Sie dagegen tatsächlich bedroht werden, können wir Sie schützen. Solange Sie sich jedoch nur gefährdet glauben, würde unser Eingreifen nicht gerechtfertigt sein.«
John Minute bewegte sich unruhig in seinem Stuhl.
»Aber wozu haben wir denn dann eine Polizei?« fragte er ungeduldig. »Ich habe Feinde, Sir George! Um nichts mehr mit London zu tun zu haben, habe ich mir seinerzeit diesen ruhigen Landsitz gekauft, aber es tauchen alle möglichen Leute dort auf, um mich auszuspionieren. Neulich war ein junger Pfarrer mit einer Spendenliste für Jugendsport da. Er hält sich schon einen Monat in der Gegend auf und wohnt in einem kleinen Haus in der Nähe von Polegate. Warum ist der überhaupt nach Eastbourne gekommen?«
»Sicher verbringt er seinen Urlaub dort.«
»Nein«, entgegnete Mr. Minute abweisend. »Es muß etwas anderes dahinterstecken. Ich habe ihn beobachten lassen und erfahren, daß er eine Dame in einem Hotel besucht - das ist seine Verbündete. In der Öffentlichkeit zeigt er sich niemals mit ihr. Und dann ist da ein kleiner Hausierer, ein wandernder Glaser, der Fensterscheiben repariert. Niemand weiß etwas Genaueres über ihn. Er verdient nicht so viel, daß er seinen Lebensunterhalt davon bestreiten könnte, aber er treibt sich dauernd in der Umgebung von Weald Lodge herum. Dann diese Miss Paines, die sich als Gartenarchitektin ausgibt und auf meinem Grundstück dauernd neue Wege anlegen will. Ich habe sie ein für allemal fortgeschickt, aber sie bleibt immer in der Nachbarschaft.« »Haben Sie die Sache der örtlichen Polizeibehörde gemeldet?«
Mr. Minute nickte.
»Und man weiß dort nichts Verdächtiges über die Leute?«
»Nicht das mindeste«, entgegnete Mr. Minute kurz.
»Dann ist auch nichts über sie bekannt, und es sind wahrscheinlich vollkommen harmlose Menschen, die auf die eine oder andere Weise ihren Unterhalt erwerben. Außerdem wird ein so reicher Mann wie Sie immer Leute anlocken, die ihm auf mehr oder weniger rechtmäßige Weise Geld aus der Tasche ziehen wollen. Das ist doch schließlich Erklärung genug.«
Sir George lehnte sich in seinen Sessel zurück, legte die Fingerspitzen zusammen und sah seinen Besucher nachdenklich an.
»Ich gebe außerordentlich ungern zu, daß jemand mehr weiß als die Polizei, aber da Sie sich so schwere Sorgen machen, möchte ich Sie doch mit einem Herrn in Verbindung bringen, der Sie wahrscheinlich beruhigen kann.«
Mr. Minute schaute plötzlich auf.
»Meinen Sie einen Polizeibeamten?«
»Nein, einen Privatdetektiv. Was uns unmöglich ist, kann er
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