0130 - Er zahlte mit seinem Blut
wir herum und einigten uns schließlich auf einen Text, den keiner von uns hatte beschwören können.
Wenn wir aber ungefähr richtig geraten hatten, dann mußte die Karte folgenden Wortlaut haben:
»Lieber Mr. Jerry! Verzeihen Sie, daß ich Ihnen diese Karte schreibe. Aber ich verstehe einfach nicht, was ich mir plötzlich zuschulden kommen ließ, daß Sie mir keinen Blick mehr gönnten. Wir hatten uns doch im Zug verabredet für den nächsten Vormittag. Und dann gingen Sie an mir vorbei, als hätten Sie mich noch nie gesehen. Jedesmal, wenn ich ein bißchen Zeit hatte, habe ich Sie im Zuge gesucht, aber ich konnte Sie nicht finden. Viel Zeit hatte ich auch nicht, denn im Abteil 16 lag eine hysterische Frau, die sich alle möglichen Krankheiten einbildete. Dauernd jagte sie meinen Kollegen und mich hin und her. Mal mußten wir ihr heißes Wasser holen, dann wieder kaltes. Aber das interessierte Sie wahrscheinlich gar nicht. Beim Aussteigen sind Sie wieder an mir vorbeigegangen, und Sie haben mich überhaupt nicht gesehen. Habe ich denn irgend etwas falsch gemacht? Wir waren doch früher so gute Kameraden! Bitte, schreiben Sie mir, wenn ich mich falsch benommen habe. Ich sage Ihnen jetzt schon, daß es bestimmt nicht meine Absicht war.«
Dahinter kam nur ein Schnörkel, der so etwas wie eine Unterschrift sein sollte, aber der war nun schon gar nicht zu entziffern.
Ich zuckte die Achseln.
»An mich kann das nicht gerichtet sein. Ich bin im letzten halben Jahr nicht mit der Eisenbahn gefahren. Wo ist denn die Karte auf gegeben?«
Ich drehte sie wieder um und betrachtete den Stempel: »Kontinentalexpreß, Zug-Nr. 16 435«, stand im Stempel und das Datum von vorgestern.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Möglicherweise ist die Karte völlig falsch gelandet. Ob in der Anschrift das zweite Wort wirklich G-man heißt, ist ja auch noch fraglich.«
»Na schön«, seufzte mein Kollege. »Dann gebe ich halt die Karte zur Poststelle zurück. Sollen die sich damit herumärgern.«
Er winkte mir noch einmal zu und ging. Ich hatte die Karte schon wieder vergessen, noch bevor er richtig die Tür zugemacht hatte. Meine Gedanken waren noch immer bei einer gewissen Auto-Bande.
Vor lauter Langeweile ging ich um zwölf in die Kantine und nahm eine billige Mittapsmahlzeit ein. Es war gegen halb eins, als ich ins Office zurückkam.
Drei Minuten vor eins klopfte es an meine Tür.
»Yeah, come in!« rief ich.
Ein Mädchen trat ein. Sie war nicht älter als zweiundzwanzig, mittelgroß, schlank und hübsch. Nur waren im Augenblick ihre Augen verweint, und das ganze Persönchen zitterte vor Aufregung.
Ich stand auf und rückte einen Stuhl zurecht. Dabei sagte ich:
»Guten Tag, Miß…?«
»Hollins«, schluchzte sie. »Eve Hollins. Danke. Unten sagte man mir, in diesem Zimmer würden Autodiebstähle bearbeitet?«
Ich nickte.
»Stimmt. Na, nun hören Sie mal auf zu weinen. So schlimm wird es wohl nicht sein. Was kann ich denn für Sie tun?«
Sie gab sich einen Ruck und putzte sich das zierliche Stupsnäschen. Dann klappte sie entschlossen ihre Handtasche auf und legte mir ihren Kraftfahrzeugbrief und den Führerschein auf den Schreibtisch.
»Mir ist vor einer halben Stunde ungefähr mein Wagen gestohlen worden!«
»Was für ein Wagen?«
»Chrysler. Letztes Baujahr. Aber das ist nicht so schlimm. Ich meine, das ist auch schlimm, aber nicht so schlimm wie…«
Sie fing plötzlich wieder an zu weinen. Immer wieder von einem Schluchzen unterbrochen stieß sie hervor:
»In dem Wagen schlief auf dem Rücksitz das Kind meiner Arbeitskollegin. Sie hatte mich gebeten, auf das Kind achtzugeben, während sie in der Mittagspause zum Friseur wollte. Ich habe auch aufgepaßt, aber weil das Kind so ruhig schlief, dacht,e ich, ich könnte mir eben ein paar Zigaretten holen. Als ich aus dem Geschäft wieder herauskam, war der Wagen weg.«
Mir fuhr der Schock in alle Glieder. Kidnapping! Kindesentführung — ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, spielte überhaupt keine Rolle. Wer je so etwas mitgemacht hat, der weiß, daß es der übelste Fall ist, der in jeder Hinsicht existiert.
Auch das Mädchen war einem Nervenzusammenbruch nahe. Ich griff zum Telefon und rief unseren Arzt an.
»Doc, hier ist Jerry. Kommen Sie doch bitte gleich mal in mein Office. Bringen Sie irgend etwas Beruhigendes mit.«
»In Ordnung. Jerry.«
Ich legte den Hörer auf. Mir zitterte die Hand vor Aufregung.
Ruhig bleiben, sagte ich mir. Eine kleine Fehlspekulation
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