0131 - Königin der Wölfe
plötzlich wie von Sinnen und warf sich gegen mich. Und er hatte auch Penner-Paul überzeugt, der griff mich nämlich von der anderen Seite an.
Der Schlag aufs Auge tat weh, deshalb wuchtete ich ihm den Ellbogen ins Bartgestrüpp. Penner-Paul fiel zur Seite und jaulte. »Mein letzter Zahn, mein letzter Zahn.« Er war gar nicht mehr zu beruhigen.
Ali warf sich auf mich. Er drückte mich von der Wand weg, wir fielen zu Boden und rollten ineinander verkeilt über die Bohlen.
Der Stromer kämpfte mit allen schmutzigen Tricks. Und er suchte meine Augen, in die er seine Finger versenken konnte. Das waren wohl die Kampftechniken, mit denen sie sich gegenseitig malträtierten. Aber nicht mit mir. Ich kannte da ein paar wirksame Gegentricks.
Als seine zustoßenden Finger auf meine Augen zufuhren, hielt ich blitzschnell meine Hand senkrecht vor den Nasenrücken.
Ein uralter Trick, aber wirksam. Der heimtückische Angriff wurde abgeblockt.
Vor Enttäuschung schrie der Knabe auf.
Ich warf mich gegen ihn. Er flog zurück und schrie wieder nach Paul, dem Penner. Der kam auch auf die Beine. Ich merkte es daran, daß sich hinter mir die Bohlen bewegten.
Gern hatte ich den Dicken nicht in meinem Rücken. Mit einem Drehgriff löste ich mich von Ali und rollte mich auf die andere Seite. Gerade noch zur rechten Zeit.
Paul, der Penner, hatte bereits mit einer kurzen handlichen Eisenstange ausgeholt, um sie mir der Länge nach über den Schädel zu schmettern.
Meine Füße waren schneller. Sie stießen ihn bis zur Wand zurück, und da ich seine Wampe getroffen hatte, gab er Laute von sich wie früher der selige Oliver Hardy in seinen Filmen.
Das alles paßte Ali überhaupt nicht. »Wir machen dich fertig!« drohte er und griff nach mir.
Ich stand schon wieder.
Seinen Faustschlag fing ich ab. Plötzlich hielt ich sein rechtes Gelenk umklammert, und wir starrten uns in die Augen.
Auf einmal verzog sich Alis Gesicht. Erst wollte er grinsen, doch dann wurde es eine Grimasse, auf der sich deutlich die Angst widerspiegelte.
Angst – vor wem?
Vor mir, vor meinem Gesicht.
Da wußte ich, daß es nicht mehr lange dauern konnte. Die Verwandlung setzte bereits ein. Sie begann am Kopf.
Ich wollte etwas sagen, doch aus meiner Kehle drang nur noch ein Keuchen.
Wild stieß ich Ali von mir. Er krachte gegen die Fässer, wo er jammernd liegenblieb.
»Sein Gesicht!« jaulte er. »Sein Gesicht! Wie ein Teufel. Ja, er ist der Teufel!«
Der war ich zwar nicht, aber so etwas Ähnliches. Keine Sekunde länger durfte ich in diesem Waggon bleiben, sonst kam es noch zur Katastrophe.
Ich hetzte zur Tür und riß sie mit fast übermenschlicher Kraft auf, trotz des Widerstands, den mir der Fahrtwind entgegensetzte.
Es war fast dunkel geworden. Nebelfetzen hingen über der Landschaft. Rasend schnell huschte der Boden vorbei.
Ich sprang.
Wie ein Tier duckte ich mich in der Luft zusammen, machte den Rücken krumm, dann erfolgte der Aufprall.
Er war schlimm. Doch irgendwie mußten meine Knochen anders geworden sein, der Aufprall schmerzte zwar, aber nicht so, wie es bei einem normalen Menschen geschehen wäre.
Wie viele Male ich mich überschlug, konnte ich nicht zählen. Als ich endlich zur Ruhe kam, lag ich auf feuchtem Grasboden und sah soeben den letzten Wagen verschwinden.
Doch genau über mir am dunklen Himmel stand ein zitronengelber bleicher Vollmond.
Mein Kraftspender.
Die Zeit des Werwolfs John Sinclair war angebrochen!
***
Ich richtete mich auf.
Da sah ich wieder das dichte Fell auf meinen Armen, fühlte in meinem Gesicht und tastete die Konturen der Schnauze nach.
Es gab keinen Zweifel mehr: Ich war ein Werwolf.
Und ich verspürte den wilden Drang in mir, nicht mehr auf der Stelle zu hocken, sondern zu jagen. Ich wollte meinem Instinkt nachgehen und Opfer suchen, denn ich mußte meinen Trieb stillen.
Witternd schaute ich mich um.
Es war fast eine Bilderbuchnacht. Der runde Mond am Himmel, der die Dunkelheit irgendwie transparent machte, das Schienenpaar, das glitzernd im Dunkeln verschwand, Wald in der Nähe, gespenstisch anzusehen mit seinen alten Bäumen.
Das war nicht alles. Es existierte noch etwas. Ein leises Singen, Rufen und Locken.
Ich hatte es schon einmal gehört, und es war stärker geworden.
Mir sträubte sich das Fell, als ich es jetzt wieder vernahm. Für mich war es in diesen Augenblicken so lieblich, und es klang so sehnsuchtsvoll, daß ich ihm unbedingt nachgehen mußte.
Mir blieb gar nichts anderes
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