014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
sie auf. Sie wehrte sich nicht, er fühlte sogar, daß sie sich leicht an ihn schmiegte. Sie hob ihr blasses Gesicht, und er beugte sich nieder und küßte sie.
»Odette! Odette!« flüsterte er. »Fühlst du denn nicht, daß ich dich über alles liebe, daß ich mein Leben hingeben würde, um dich vor Unheil zu bewahren? Willst du mir wirklich nichts sagen?«
»Nein-nein«, stöhnte sie. »Bitte, frage mich nichts. Ich fürchte mich! Oh, ich fürchte mich so sehr!«
Er drückte sie an sich, legte seine Wange an die ihre und streichelte ihr Haar.
»Aber du brauchst dich doch nicht zu fürchten«, sagte er eindringlich. »Und wenn du alle Höllenstrafen verdient hättest, und wenn du schweigst, um jemand in Schutz zu nehmen, so würde ich ihn auch schützen, weil ich dich grenzenlos liebe, Odette!«
»Nein, nein«, rief sie und stieß ihn zurück, indem sie ihre Hände gegen seine Brust preßte.
»Frage mich nicht -«
»Fragen Sie mich!«
Tarling fuhr herum. Ein Mann stand in der offenen Tür.
»Milburgh!« sagte Tarling wütend.
»Jawohl, Milburgh!« erwiderte der andere höhnisch. »Es tut mir leid, daß ich diese schöne Szene unterbrechen muß, aber die Umstände sind äußerst dringlich, und ich muß schon gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßen, Mr. Tarling. Ist es Ihnen vielleicht peinlich?«
Tarling ließ Odette los und trat dem hämisch lächelnden Milburgh gegenüber. Mit einem Blick überschaute er die Gestalt und sah, daß seine Beinkleider mit Spangen zusammengehalten und mit Schmutz bedeckt waren. Es war ihm nun klar, wer der Radfahrer gewesen war.
»Sie radelten also von Mrs. Riders Haus fort?«
»Jawohl, ich radle sehr häufig.«
»Was wollen Sie hier?«
»Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß Sie Ihr Versprechen halten«, erwiderte Milburgh sanft.
Tarling starrte ihn an.
»Mein Versprechen? Welches Versprechen?«
»Nicht nur den Täter zu beschützen, sondern auch die, die sich in eine böse Lage gebracht haben, weil sie den Täter beschützen wollten.«
Tarling sprang auf. »Wollen Sie damit sagen -«, begann er heiser, »wollen Sie etwa eine Anklage erheben gegen - «
»Ich klage niemand an«, erwiderte Milburgh mit einer höflichen Handbewegung. »Ich möchte Ihnen nur erklären, daß wir beide, Miss Rider und ich, in einer sehr ernsten Lage sind und daß es in Ihrer Hand liegt, uns sicher entkommen zu lassen, so daß wir in ein Land gehen können, das keine Auslieferungsverträge mit England abgeschlossen hat.«
Tarling ging einen Schritt auf ihn zu.
»Wollen Sie Miss Rider der Mittäterschaft an diesem Mord bezichtigen?« fragte er scharf.
Milburgh lächelte, aber man sah ihm an, daß er sich nicht wohl fühlte.
»Ich sagte schon, daß ich niemand anklagen will. Was den Mord anbelangt« - er zuckte die Schultern -, »Sie werden die Zusammenhänge besser verstehen, wenn Sie die Aktenstücke lesen, die dort in der Ledertasche verschlossen sind. Ich war gerade dabei, sie an einen sicheren Ort zu bringen.«
Tarling nahm die Ledertasche vom Tisch und schaute sie an.
»Ich werde morgen wissen, was darin enthalten ist. Schlösser bieten mir wenig Schwierigkeiten -«
»Sie können den Inhalt jetzt gleich lesen«, sagte Milburgh ruhig und nahm eine Kette aus seiner Tasche, an deren Ende ein kleiner Schlüsselbund hing. »Hier ist der Schlüssel, schließen Sie bitte auf.«
Tarling tat es und öffnete die Mappe. Plötzlich riß ihm jemand die Mappe aus der Hand, und als er sich umwandte, sah er in das erregte Gesicht Odettes und las Schrecken in ihren Blicken.
»Nein, das dürfen Sie nicht lesen!« rief sie außer sich.
Tarling trat einen Schritt zurück. Er sah das spöttische Lächeln auf Milburghs Gesicht und hätte ihn am liebsten niedergeschlagen.
»Miss Rider wünscht nicht, daß ich den Inhalt zur Kenntnis nehme.«
»Sie hat auch allen Grund dazu«, erwiderte Milburgh hämisch.
»Bitte, nehmen Sie es!« Odettes Stimme war plötzlich merkwürdig klar und fest. Sie Beichte dem Detektiv die Papiere, die sie eben aus der Mappe genommen hatte.
»Ich hatte wohl einen Grund«, sagte sie leise. »Aber es ist nicht der, den Sie vermuten.«
Milburgh war zu weit gegangen.
Tarling sah die Enttäuschung in seinem Gesicht. Dann schlug er das Aktenstück auf und begann zu lesen. Aber schon die erste Zeile erschütterte ihn so, daß er kaum noch atmen konnte.
Das Geständnis der Odette Rider
»Großer Gott«, flüsterte er, als er weiterlas. Das Schriftstück war kurz
Weitere Kostenlose Bücher