0151 - Der Rächer und sein Richter
Richters geriet ins Zittern. Urplötzlich entglitt ihm die Tasse und klirrte zu Boden. Mit einem leichten, fast zarten Geräusch zersprang das Porzellan in viele kleine Scherben.
Der Richter stotterte etwas, aber es wurden keine artikulierten Laute mehr. Sein Gesicht rötete sich jäh.
»Um Gottes willen!«, rief der junge Mann. »Ist Ihnen nicht wohl, Sir? Ich wollte Sie nicht stören! Es ist nur…weil ich doch vor sieben Jahren bei Ihnen Assessor war…da dachte ich…natürlich hätte ich Sie nicht stören sollen…Kellner! Diese Kerle sitzen auf ihren Ohren! Hallo, Kellner! Los, Mann, bringen Sie ein Glas Eiswasser! Beeilen Sie sich doch!«
»Danke«, krächzte Morgan. »Schon gut Es ist schon gut. Ich weiß jetzt wieder, wer Sie sind, mein Gott, ich…ich bin mit den Nerven ziemlich fertig.«
Es sollte noch viel schlimmer kommen.
***
Wir fuhren ohne Sirene zurück zum Distriktgebäude. Um die Meldungen für die Zeitungen fertig zu machen, war noch genug Zeit. Die Abend- und Nachtausgaben waren jetzt entweder schon erschienen oder doch wenigstens schon im Druck. Bei diesen war also sowieso nichts mehr zu machen. Und für die Morgenblätter würde es in drei Stunden noch früh genug sein, sodass kein Grund zu einer besonderen Eile bestand.
Außerdem war es inzwischen längst so spät geworden, dass Johnes kein offenes Schuhgeschäft oder Warenhaus mehr finden konnte.
Als wir wieder im Office saßen, packten wir die Archivunterlagen von Johnes zusammen und suchten damit unsere Presse-Abteilung auf.
Hier saß noch ein einzelner Mann, der den Nachtdienst zu versehen hatte. Es war Theo Kerne, der ständig neue Witze wusste, die er stets erzählte, ohne selbst eine Miene dabei zu verziehen.
Als wir bei ihm eintrafen, fuhr er von seiner Rätselzeitung auf, grinste uns freundlich an und sagte: »Nett, dass ihr mich mal besucht. Kennt ihr schon den Witz von der alten Tante, die einen Dollar verliert?«
»No«, erwiderte Phil schlagfertig. »Aber kennst du schon den Witz, den neuesten, von dem alten Onkel, der einen Dollar findet?«
Theo Kerne starrte uns offenen Mundes an: »Nee«, sagte er entgeistert. »Mir völlig neu: Los, Phil, erzähle ihn!«
»Geht nicht«, sagte Phil. »Der Witz ist so brandneu, dass er morgen erst erfunden wird. Deshalb kannst du ihn natürlich auch nicht kennen.«
Kerne lachte. Dann ließ er seine spaßige Geschichte vom Stapel. Nachdem wir noch zwei weitere Witze von Kerne angehört und schallend belacht hatten, fand er es selbst an der Zeit zu ernsteren Dingen zurückzukehren.
»Witz ist Witz«, sagte er, »und Dienst ist Dienst. Kommen wir zum Dienst. Habt ihr etwas Besonderes auf der Seele?«
»Ja«, erwiderte ich. »Du musst diese Sache wegen Johnes heute Abend an die Redaktion herausgeben.«
»Ich weiß«, nickte er. »Meine Vorgänger vom Tagdienst haben mir den Kram schon auf den Schreibtisch gelegt.«
»Die Sache muss noch ein paar Ergänzungen bekommen. Nimm dir Papier und notier die Einzelheiten. Daraus dann einen pressewirksamen Text zu machen, ist deine Sache.«
»Klar. Ich habe gehört, das wir von der Presseabteilung für derlei Sachen bezahlt werden. Leg los!«
»Heute Nachmittag wurde an der Uferböschung des East River, bei den Tennisplätzen auf Randalls Island, die Leiche eines der dortigen Parkwächter gefunden. Der Mann ist mit einem etwa Stein erschlagen worden. Die Tat muss bereits heute Vormittag zwischen halb zehn und elf Uhr erfolgt sein.«
Kerne pfiff durch die Zähne.
»Dieser Johnes fängt ja gut an«, brummte er. »Ausbrechen - das mag ja noch angehen. Aber gleich Leute erschlagen, das wird ihm das Genick endgültig brechen. Wenn sie ihn jetzt wieder haben, wird er hingerichtet.«
»Das steht zu erwarten. Aber erst einmal in unserem Text weiter. Hunk Johnes tötete den Wächter anscheinend nur deshalb, weil er unverfängliche Kleidung brauchte. In dem Schlafanzug des Gefängnis-Hospitals konnte er sich natürlich nirgendwo sehen lassen. Unter anderem hat er dem Mann auch die Schuhe abgenommen. Aber damit hat er Pech gehabt. Während er selbst Schuhgröße siebeneinhalb hat, trug der Wächter Schuhgröße zehn. Johnes wird sich also innerhalb der nächsten zwei Tage andere Schuhe beschaffen müssen. Alle Schuhgeschäfte, Warenhäuser und Händler von getragener Kleidung und altem Schuhwerk müssen besonders auf diese beiden Schuhgrößen hingewiesen werden. Möglicherweise versucht Johnes sogar, die Schuhe einfach bei einem Trödler
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