0152 - Der Gigant von Atlantis
an unseren Winter, ich fühlte mich direkt heimischer. In der graublauen Luft standen über uns dunkle Punkte. »Kondore«, sagte Suko, der die Tiere ebenfalls gesehen hatte. »Tolle Vögel.«
Mir waren diese Riesengeier im Augenblick egal, ich hatte keine Lust mehr, hinter dem Steuer zu hocken. Mir tat schon mein Hinterteil vom langen Sitzen weh. Endlich die Stadt.
Sie lag in einer Mulde, wir konnten von oben auf sie hinabschauen.
Zwei Kirchen fielen mir sofort auf. Die schlanken Turme stachen in den Himmel.
Sie waren ebenso weiß wie die meisten der Häuser, die sich um einen Marktplatz gruppierten, wo ich einen Brunnen sah. Sternförmig führten die Straßen auf den Marktflecken zu. Ich war sicher, daß wir dort El Jefe finden konnten. Es herrschte reges Leben und Treiben. Bunt zusammengewürfelte Menschen mit freundlichen Gesichtern und einem Lächeln auf den Lippen. Die Leute hier wußten zum Glück noch nicht, was Streß bedeutete. Wir fuhren zum Marktplatz.
Als wir steifbeinig aus dem Wagen stiegen, hatte ich das Gefühl, gerädert zu sein. Ich klopfte mir den Staub von der Kleidung und sah mich um.
Zahlreiche Menschen standen um uns herum und beobachteten uns. Wir sahen auch wirklich nicht aus wie die Einheimischen.
Zwar trugen wir lockere Kleidung, aber auf Poncho und den breitkrempigen Hut hatten wir doch verzichtet. Die meisten Bauten waren ein-, höchstens zweistöckig. Wie Wohnhäuser sahen sie mir nicht gerade aus, eher wie öffentliche Gebäude.
Sicher fand ich hier El Jefe, den Chef, wie das übersetzt heißt.
Viele Kinder starrten uns an, aber auch Erwachsene. Sie lehnten zum großen Teil an Haltebalken. Vor jedem zweiten Gebäude gab es eine solche Rarität für uns. In Western banden die Cowboys vor dem Saloon ihre Pferde immer daran fest. Natürlich war auch eine Bodega vorhanden. Aus ihr trat ein Polizist. Der Mann war fast so breit wie die beiden Schwingtüren, die er lässig mit seinem dicken Bauch aufschob. Er trug eine braune Uniform, die sich verdächtig spannte, ein Koppel mit einer Waffe daran und Stiefel. »Da kommt der Dorfsheriff«, sagte Suko. Die Menschen machten ihm respektvoll Platz. Gewichtig schlenderte er auf uns zu. Die Bartenden wuchsen ihm rechts und links des Mundes bis zum Kinn, seine Nase war fleischig, unter der Mütze quoll pechschwarzes Haar hervor.
Vor uns blieb er stehen und grüßte. Auf spanisch sprach er uns an. Ich konnte zwar einige Brocken, antwortete jedoch in englisch, das er seltsamerweise verstand.
»Wir möchten zu El Jefe«, sagte ich, nachdem wir uns vorgestellt hatten.
Der Polizist nickte. »Und was wollt ihr von ihm?«
»Wir haben etwas zu besprechen.«
Wieder das Nicken. Dann: »Ich bringe euch zu ihm. Folgt mir.«
Der dicke Polizist drehte sich um, und wir marschierten hinter ihm her.
Die neugierigen Blicke der Einwohner begleiteten uns. Der Dorfsheriff führte uns zu einem ehemals weißen Haus, in dessen Steinfassade sich der rötlich-braune Staub aus den Bergen festgesetzt hatte. Auch auf die Fensterscheiben hatte sich eine dicke Schicht gelegt. An der Tür klopfte er.
Erst als eine Antwort aufgeklungen war, öffnete der Polizist. Wir betraten ein Büro, in dem ein Schreibtisch und zwei Aktenschränke standen. Vor dem Schreibtisch lag ein Teppich, und hinter dem Möbelstück hockte El Jefe. Suko und ich waren beide überrascht. Wir hatten einen Einheimischen erwartet, doch vor uns saß ein blonder Mann um die 50 mit einem Knebelbart, sonnenbrauner Haut und hellwachen, blauen Augen.
»Die beiden Männer möchten Sie sprechen, El Jefe«, sagte der Polizist und salutierte dabei.
»Gut, Pablo. Ich danke dir, du kannst gehen.« Pablo salutierte noch einmal, nickte uns zu und verschwand.
El Jefe aber erhob sich und trat hinter seinem Schreibtisch hervor.
Lächelnd reichte er uns die Hand.
»Was verschafft mir das Vergnügen Ihres Besuchs?« fragte er in fließendem Englisch, was mich zu der Frage anregte, ob ich einen Landsmann vor mir hatte.
El Jefe lachte. »Meine Vorfahren kamen zwar aus England, aber ich bin Amerikaner.«
»Und dann sitzen Sie hier?«
»Was will man machen? Ich bin als Entwicklungshelfer vor fast zwanzig Jahren nach Peru gekommen, habe mitgeholfen, die Stadt hier aufzubauen, und mir hat es in Canta so gut gefallen, daß ich geblieben bin. Wissen Sie, das Leben hier ist anders als in den großen Städten. Ruhiger, beschaulicher und überschaubarer. Hier gibt es keine Hetze und Eile, hier kennt jeder noch jeden.
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