0159 - Der Engel, der ein Teufel war
es um Leben und Tod…
***
Es war ein riesiges Trümmergrundstück!
Früher hatten hier alte Wohnhäuser gestanden, die um die Jahrhundertwende gebaut worden waren, doch sie waren dem Moloch Industrie geopfert und abgerissen worden.
Die meisten wenigstens, wie ich bei genauerem Hinsehen feststellte. Lavinia war an meiner Seite, ein geschmeidiger, lautloser Schatten, der in der Düsternis offenbar einwandfrei sehen und sich orientieren konnte. Wir schritten an den gewaltigen Schutthalden vorbei, an Kränen, Förderbändern, die die Trümmer auf bereitgestellte Lastwagen beförderten. Tagsüber mußte hier ein hektischer Betrieb herrschen, jetzt aber atmete das Trümmergelände eine schmierige Trostlosigkeit aus.
Wenigstens regnete es nicht mehr ganz so schlimm Bindfäden, dennoch versanken wir bis zu den Knöcheln im Dreck. Der Boden war aufgeweicht, ein besserer Schlammpfuhl, jeder Schritt wurde von schmatzenden und gurgelnden Geräuschen begleitet. Schon längst war der nachlässig vernagelte Bretterzaun, vor dem der Untote den Jaguar geparkt hatte, hinter uns in Regen und Dunkelheit und Nebel versunken. Ich blickte mich auch nicht um.
Lazarius war hinter uns, und obwohl ich ihn nicht sah, wußte ich es der Gestank, den er verbreitete, war eindeutig.
Wir wandten uns nach rechts. Dort wuchs nach ein paar Schritten ein häßlicher Häuserklotz empor, grau die Fassade abgeblättert, die Fenster des Erdgeschosses und des ersten Stocks eingeworfen, so daß sie wie die Augenhöhlen eines bizarren Wesens wirkten, deprimierend.
Unwillkürlich mußte ich die Nase rümpfen. Wer hier wohnte, der mußte verdammt gute Gründe dafür haben.
Die Haustür hing schief in den Angeln, ein ekelhafter Geruch nach Verwesung, feuchtem Mauerwerk und Exkrementen schlug aus dem düsteren Spalt.
Lavinia schwieg, und ich wußte, daß es besser war, ebenfalls den Mund zu halten.
Trotzdem folgte ich dieser Einsicht nicht.
»Ein hübsches Versteck für ein so wichtiges Pergament.« Es klang genau so spöttisch, wie ich es hatte haben wollen.
»Nicht mein Versteck«, erwiderte sie überraschend ruhig.
»Der Verräter?« bohrte ich vorsichtig weiter.
»Ja. Er hat dafür bezahlt.«
»Du hast ihn umgebracht?«
»Ja. Es ist nicht schade um ihn. Er hat mich verraten, und er wollte das Pergament an meine Gegner verschachern. Typisch Mensch… Immer auf den finanziellen Vorteil aus.« Ein gehässiges Lachen. »Er hat bekommen, was er verdient hat.«
»Wann?«
»Bevor ich mir dich geholt habe.«
Ich nickte. Beinahe hatte ich diese Antwort erwartet.
»Und die Verfolger, von denen du vorhin gesprochen hast?«
»Nervös, John Sinclair?«
Ich zuckte die Schultern, und sie lachte kurz, denn keine Antwort war in solch einem Fall eben auch eine Antwort.
Lazarius drängte sich an mir vorbei und betrat das Haus, wir folgten ihm. Lavinia steuerte mich behutsam, es kam mir manchmal sogar schon fast so vor, als sei ich es wieder selbst, der meine Schritte lenkte, aber das war ein Irrtum und zeigte nur, wie perfekt ihre Kontrolle über mich war!
Durch die Nase atmete ich, um so den Gestank einigermaßen erträglich zu halten.
Eine große Halle. Der Verputz bröckelte von den Wänden. Unter meinen Schuhen knirschte es. Auf einem schimmeligen Bretterboden lag eine faulende Matratze. Daneben ein paar Flaschen und Scherben.
Sogar drei verrostete Briefkästen gab es noch an der Wand, die mit einer ebenfalls schimmelnden Tapete überzogen war. Große Fetzen hingen herunter. Überall Verfall, Feuchtigkeit, Moder.
Schrecklich.
Wir stiegen die Stufen hinauf. Das Geländer war morsch, manchmal fehlte es ganz.
Ich mußte an eine ähnliche Ruine denken, in der es mich vor einiger Zeit beinahe erwischt hatte. Asmodinas Anhänger hatten dort Glenda Perkins opfern wollen, um mit ihrer Lebensenergie den Seelenwald-Ableger zu stärken. Damals war es um Sekundenbruchteile gegangen.
An den Wänden sah ich Kritzeleien, ordinäre Sprüche und Zoten und obszöne Malereien. Das paßte hierher.
Wir erreichten den fünften Stock, und hier oben sah es besser aus. Die Fensterscheiben waren unversehrt, die Feuchtigkeit schlug einem nicht mehr aus jeder Nische und Ecke entgegen, und sogar massive Türen gab es noch.
Lazarius stieß ein warnendes Grollen aus.
»Still!« zischte Lavinia.
Sie näherte sich einer Tür, ihre schmalen Hände beschrieben einen knapp bemessenen Kreis, ihre Lippen murmelten etwas, das ich nicht verstand, Funken sprühten aus den
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