0163 - Um das Leben meines Freundes
brummte er. »Wann kommen Sie zum Schauhaus?«
»Sofort«, sagte ich. »Ich will nur noch den Chef verständigen. Wahrscheinlich kommt er mit.«
Ich legte den Hörer auf. Wie ein Schlafwandler ging ich zu Mister High. Er fuhr auf, als ich eintrat:
»Um Gottes willen, Jerry, was ist denn mit Ihnen passiert? Setzen Sie sich! Ich werde sofort den Arzt rufen!« Müde ließ ich mich in einen Sessel fallen.
»Wieso den Arzt?« fragte ich. »Ich bin ein bißchen durcheinander, aber das vergeht von ganz alleine wieder. Deswegen brauche ich doch nicht gleich…« Der Chef unterbrach mit einer knappen Geste:
»Und Ihre Stirn, Jerry?«
»Meine Stirn?«
Ich tastete mit den Fingern über die Augenbrauen. In diesem Augenblick erst spürte ich die Schmerzen. Und als ich die Finger wieder wegnahm, waren sie rot von Blut.
»Das ist nichts«, sagte ich. »Ich bin gegen meine Schreibtischkante gestürzt. Es wird eine harmlose Beule geben, nichts weiter. Deswegen komme ich ja auch gar nicht.«
Ich nahm mein Taschentuch und tupfte mir die Beule auf der Stirn ab, die beachtliche Ausmaße angenommen hatte.
»Captain Hywood hat gerade angerufen«, sagte ich, als ich mein Taschentuch wieder in die Hose schob.
Mister High sah mich mit besorgtem Blick an.
»Und was wollte er?«
Ich zuckte die Achseln.
»Irgendwelche Cops haben am Hudson eine männliche Leiche gefunden. Hywood war schon im Schauhaus. Er meint…«
Ich sagte nichts. Mister High verstand auch so. Langsam ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl zurückfallen. Sein Gesicht wirkte wie eine Maske. So saßen wir lange Zeit und dachten an den Mann, dem ich es zu verdanken hatte, daß ich überhaupt ein G-man geworden war. Den Mann, der unzählige Male mit mir Gangsterbanden und skrupellose Geschäftemacher dingfest gemacht hatte. Der Mann, der mir, ich weiß nicht wie oft, das Leben rettete, wenn meine Karten im tödlichen Spiel unseres gefährlichen Dienstes mehr als schlecht gewesen waren. Der Mann, der seit sechs Tagen unser Denken beherrschte. Phil Decker.
Mein Freund Phil.
Irgendwann stand ich auf.
»Ich fahre jetzt zum Schauhaus, Chef.«
Mister High nickte. Er erhob sich, knöpfte sich den Rock zu und murmelte tonlos:
»Würden Sie mich bitte mitnehmen?«
Ich nickte nur. Es fiel mir erst viel später auf, daß mich der Chef um diesen Dienst gebeten hatte, statt ihn zu befehlen.
***
Captain Hywood stand schon vor dem Haus. Das Städtische Leichenschauhaus liegt in der 29. Straße Ost, also ein hübsches Stück vom Distriktsgebäude entfernt. Trotzdem hatte ich die Strecke in Rekordzeit geschafft. Nicht einmal Mister High hatte mich ermahnt, bei einer vernünftigen Geschwindigkeit zu bleiben. Die Polizeisirene war mein guter Engel auf dieser Fahrt.
Unterwegs siegte meine Hoffnung über die düstere Meldung, die uns Hywood gemacht hatte. So gut wie ich kannte Hywood Phil nicht. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Es gibt viele Menschen, die einem anderen ein wenig ähnlich sehen. Und Leichen verändern oft ihren Ausdruck, also warum sollte sich Hywood nicht geirrt haben?
Sobald mich dieser leise Hoffnungsfunke erst einmal gepackt hatte, drehte ich auf.
Als wir ausstiegen, schüttelte uns Hywood schweigend die Hand. Wortlos stiegen wir die Stufen hinan. Unsere Schritte hallten im Gang wieder. Der Aufseher kam in seinem weißen Hygienekittel hinter seinem Tisch hervor und sagte:
»Guten Morgen, Gentlemen! Den von heute früh, vom Hudson?«
Ich nickte.
Meine Hände waren naß von kaltem Schweiß. In der Kehle saß mir ein Kloß, der mir fast den Atem abschnürte. Ich hätte keinen Laut in diesen Minuten herausbringen können.
Schweigend folgten wir dem Aufseher hinab in den Keller. Weiße Wände, in denen ovale Schraubtüren eingefügt waren wie die Heizungsklappen eines Backofens. Aber hier gab es keine Heizung, sondern eine Raumkühlung. Wir froren, als wir die breiten Flügeltüren aufstießen.
Auf den Fließen klappten unsere Absätze. Von den Wänden hallten die Geräusche wider. Der Aufseher trottete vor uns her mit unbewegtem Gesicht. Er tat diese Gänge oft ein paarmal am Tag. Er war längst an den Tod gewöhnt. Auch an den Schmerz, den er den Hinterbliebenen seiner Opfer zufügt.
Er schraubte einen Deckel auf. Der Riegel klirrte, als er ihn aus den Krampen zog. Dann packte er in die Öffnung. Lautlos schoben sich Schienen heraus zugleich mit der Bahre, die er vorzog.
Ich fühlte, wie meine Knie wieder weich wurden. Mister High war so weiß
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