0183 - Der Mann, der das Grauen erbte
Desinfektionsmitteln und Krankenhaus.
Zamorras Blick wanderte über das Bett. Die Gestalt des Mädchens war hinter Bergen von Decken und Laken kaum zu erkennen. Ihr Gesicht wirkte seltsam bleich, und die Augen waren innatürlich weit aufgerissen und starr. Sie fixierte einen unsichtbaren Punkt irgendwo an der gegenüberliegenden Wand, aber was sie sah, war nicht der rauhe, fleckige Putz. Irgend etwas unendlich Gräßliches, Unvorstellbares schien ihren Blick gefangen zu halten.
Zamorra hörte, wie Nicole neben ihr scharf die Luft einsog. Es war ein erschütternder Anblick.
»Das ist Professor Zamorra«, sagte Hunter zu seiner Frau, die auf einem Stuhl neben dem Bett saß und aus blicklosen Augen auf die reglose Gestalt starrte. Sie hob langsam den Kopf, eine inendlich mühsame, schwerfällige Bewegung, und sah Zamorra an. Ihr Blick unterschied sich kaum von dem ihrer Tochter. Auch sie war in einem Netz von Grauen und - schlimmer noch - Hoffnungslosigkeit gefangen, wie Zamorra begriff. Und wahrscheinlich litt sie mehr als das halb bewußtlose Mädchen dort auf dem Bett.
»Sie - können ihr helfen?« fragte sie nach einer Ewigkeit.
Zamorra versuchte zu antworten, aber irgend etwas schnürte ihm die Kehle zu. Er senkte betreten den Blick und näherte sich dem Bett.
»Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?« fragte er leise.
»Seit dem ersten Tag.« Mrs. Hunters Stimme klang brüchig. »Sie wurde so… aufgefunden. Seither hat sich nichts verändert.«
»Sie war in der Klinik?«
»Ja, wir… wir haben alles versucht. Wir haben die Ärzte angefleht, ihnen Geld geboten…« Sie brach ab. Einen Moment lang kämpfte sie sichtlich mit den Tränen, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Können Sie ihr helfen?«
Ein winziger Hoffnungsfunke glomm in ihren Augen auf.
Zamorra antwortete nicht. Er war kein Arzt. Er wußte, daß er bei diesen Leuten den Eindruck erweckt hatte, irgend etwas für das Mädchen tun zu können, und er kam sich gemein dabei vor…
Er setzte sich auf die Bettkante, griff behutsam nach der Hand des Mädchens und fühlte ihren Puls. Er war flach, aber regelmäßig.
Nein - ein Arzt konnte hier nicht helfen. Zamorra hatte ähnliche Fälle gesehen. Katatonie: Völlige Teilnahmslosigkeit, so, als wäre der Körper nur noch eine leere Hülle, die auf Kommandos reagierte, wie eine Maschiene. Ohne Eigenleben.
»Sie - sie kann sich überhaupt nicht bewegen?« fragte Nicole stockend.
Mrs. Hunter schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ißt, wenn man sie füttert, sie atmet, sie schläft, aber das ist alles. Kein Wort, keine Regung. Sie muß… gewickelt werden wie ein Säugling.«
Zamorra legte die Hand auf die Stirn des Mädchens und schloß die Augen. Aber der gedankliche Kontakt kam nicht zustande. Es war, als hätte sich eine unsichtbare Barriere zwischen den Geist des Mädchens und die Außenwelt geschoben, eine Wand, durch die absolut nichts dringen konnte. Außer der Angst.
Er konnte das Grauen spüren, das das Mädchen gefangen hielt.
»Spürst du irgend etwas?« fragte Nicole.
Zamorra schüttelte ungewollt heftig den Kopf und zog die Hand zurück. So kam er nicht weiter.
»Es wäre gut, wenn ich einen Moment mit ihr allein sein könnte«, sagte er.
»Allein?« Das Mißtrauen in Hunters Stimme war wieder da. »Wozu?«
»Ich möchte etwas ausprobieren. Aber dazu brauche ich vollkommene Ruhe. Bitte, wenn es geht. Fünf Minuten…«
Hunter überlegte. »Meine Tochter ist kein Versuchskaninchen«, sagte er schließlich.
Zamorra nickte geduldig. »Natürlich nicht, Mister Hunter. Aber es könnte ihr helfen.«
Wieder zögerte Hunter. »Ich…«
»Bitte, Clive«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Laß es ihn versuchen. Es ist doch sowieso alles egal«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu.
»Na gut.« Hunter musterte Zamorra finster. »Fünf Minuten. Und ich warte vor der Tür.« Er drehte sich um, nahm seine Frau beim Arm und verließ den Raum.
»Was hast du vor?« fragte Nicole. Ihr Blick wanderte mitleidig über das bleiche Gesicht des Mädchens. »Armes Ding.«
Zamorra knöpfte sein Hemd auf und löste das Amulett von der Kette. Sein Amulett… Er hatte es geschenkt bekommen, ein schön gearbeitetes aber trotzdem nicht allzu wertvolle Schmuckstück scheinbar. Seine wahre Macht hatte es erst später bewiesen. In dem harmlos aussehenden Stück Silber ruhten gewaltige magische Kräfte, die Zamorra selbst nicht verstand. Aber es hatte ihm schon unzählige Male das Leben gerettet. Auf
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