0183 - Der Mann, der das Grauen erbte
schien ihm Kraft und -ja, fast so etwas wie Trost zu spenden.
Seine einzige Chance, seine einzige Waffe.
Er ging unruhig auf dem kurzgeschnittenen Rasen, der an das Haus der Martens angrenzte, auf und ab. Eigentlich hätte er lange im Bett liegen und schlafen müssen, um Kraft für morgen zu sammeln, aber er konnte nicht. Er brauchte diese wenigen Minuten der Einsamkeit, um seine Gedanken zu ordnen, sich zu sammeln. Zu meditieren, wie Bill es oft spöttisch nannte.
Wieder spielten seine Finger mit dem Amulett. Wie hatte er es gerade in Gedanken genannt - eine Waffe?
Der Gedankengang war irgendwie absurd. Er wußte nicht, wann, wo, warum und von wem das Zauberamulett erschaffen worden war - aber eines wußte er genau. Es war auf keinen Fall als Waffe gedacht worden. Er hatte sich oft vorgenommen, endlich einmal das Geheimnis des Amuletts zu ergründen, aber bisher hatte er noch nie die Zeit dafür gefunden. Manchmal, in Augenblicken wie diesem, wenn er allein war und wieder einmal vor der Wahl stand, sein Leben einzusetzen oder die Welt dem Bösen zu überlassen, fragte er sich, ob dies nicht der Preis war, den er für den Besitz des Amuletts zu zahlen hatte: Ständig von einer Gefahr zur anderen zu hetzen, immer aufs Neue sein Leben und seine Seele aufs Spiel setzen zu müssen, um unschuldige Menschen vor den Bewohnern dieses anderen, dunklen Universums zu schützen, das unsichtbar hinter den Grenzen der realen Welt lauerte.
Schritte drangen in seine Gedanken. Er blieb stehen, drehte sich langsam um. Es war Martens.
»Störe ich?« fragte er vorsichtig.
Zamorra lächelte. »Nein. Ich habe nur gerade ein bißchen philosophiert - um es einmal so zu nennen.«
Martens nickte. »Ich kenne das«, sagte er leise. »Manchmal muß man einfach allein sein.«
Zamorra lächelte. »Ja. Aber lassen wir das - Sie wollen mich sprechen?«
»Ja. Ich…« Martens sah betreten zu Boden und suchte sichtlich nach den richtigen Worten.
»Es geht um heute nachmittag«, half ihm Zamorra.
Martens nickte. »Auch. Sie - Sie wollten nicht, daß ich Sie begleite, stimmts?«
Zamorra schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte es nicht. Und um gleich auf Ihre nächste Frage zu antworeten«, fügte er hinzu. »Ich will auch nicht, daß Sie dabei sind, wenn wir in die Ruine eindringen.«
»Und - warum nicht?«
Zamorra zögerte mit der Antwort. »Ich habe Sie beobachtet, als wir das erste Mal draußen waren«, sagte er dann. »Sie hatten Angst. Das ist kein Grund, sich zu schämen, Steven. Auch ich fühle mich nicht allzu wohl dort draußen. Sie selbst haben mir erzählt, wie… fremd, wie unheimlich Ihnen die Gegend rings um das Haus vorkommt, und…«
»Das ist keine Antwort«, unterbrach ihn Martens ungewollt heftig. »Ich habe zugesagt, Ihnen zu helfen, und ich werde es tim.«
»Sie verstehen mich falsch«, sagte Zamorra sanft. »Es geht nicht darum, ob Sie Angst haben oder nicht, ob Sie uns helfen wollen oder nicht. Aber das, was wir Vorhaben, kann gefährlich werden. Verdammt gefährlich sogar.«
»Sie meinen den Keller?«
Zamorra nickte.
Martens zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Wenn ich mich vor ein paar Ratten und Mäusen fürchte, werde ich nie ein guter Journalist«, sagte er leichthin.
»Es geht hier nicht um Ratten und Mäuse, Steven.«
»Ich weiß, verdammt nochmal«, begehrte Martens auf. »Aber wir haben eine Abmachung getroffen, vergessen Sie das nicht. Und außerdem arbeite ich gewissermaßen für Sie. Immerhin bezahlen Sie mein Gehalt während der Zeit, in der ich bei Ihnen bin.«
»Betrachten Sie es als Urlaub«, schlug Zamorra vor.
Martens verzog abfällig das Gesicht. »Na gut«, sagte er grimmig. »Spielen wir mit offenen Karten. Ich weiß Bescheid, Professor. Ich habe Ihre Aufzeichnungen gelesen.«
»Sie haben - was?« machte Zamorra verblüfft.
»Ich war vorhin in Ihrem Zimmer und habe in Ihren Notizen gelesen«, wiederholte Martens trotzig. »Ich weiß, daß sich so etwas nicht gehört, und… es tut mir leid, ehrlich. Aber Sie haben mir keine andere Wahl gelassen.«
Zamorra schwieg für Sekunden. Er wußte nicht, ob er diesem jungen Mann nun ernstlich böse sein sollte, oder ob er sein Verhalten seinem jugendhaften Ungestüm zugute halten konnte.
»Und?« fragte er schließlich. »Zu welchem Schluß sind Sie gekommen?«
Martens hob erneut die Schultern. »Um ehrlich zu sein… bei jedem anderen hätte ich gesagt, der Kerl ist total übergeschnappt. Aber bei Ihnen…«
»Mir glauben Sie?«
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