0183 - Der Mann, der das Grauen erbte
auszugehen, eine fast greifbare Ahnung des Kummers, der hier Einzug gehalten hatte.
Von drinnen näherten sich Schritte. Sie hörten das Rasseln einer Kette, dann wurde der Schlüssel hörbar herumgedreht, und die Tür schwang auf.
»Mister Hunter?« fragte Zamorra.
Der Mann nickte. Er war gut zwei Köpfe kleiner als Zamorra, aber unglaublich breitschultrig gebaut. Sein Gesicht war alt und verwittert wie das Land, in dem er aufgewachsen war, aber die Augen waren trotz seines Alters noch klar.
»Sie wünschen?«
»Es geht um Ihre Tochter«, sagte Zamorra vorsichtig. Er sah an der Reaktion auf Hunters Gesicht, daß die Worte falsch gewählt gewesen waren. Aber sie ließen sich nicht mehr rückgängig machen.
»Was wollen Sie?« schnauzte Hunter. Er gab sich keinerlei Mühe, höflich zu den beiden Fremden zu sein, die da plötzlich vor seiner Haustür aufgetaucht waren. »Ich brauche niemanden. Die Ärzte waren lange genug hier. Lassen Sie uns in Ruhe.«
Er machte Anstalten, die Tür ins Schloß zu werfen, aber Zamorra trat schnell einen Schritt vor, so daß Hunter wohl oder übel von seinem Vorhaben Abstand nehmen mußte, wenn er ihm die Tür nicht direkt vor den Kopf schlagen wollte. Für ein, zwei Augenblicke sah es so aus, als spiele er ernsthaft mit dem Gedanken, dies auch zu tun, aber Zamorra ließ ihm keine Zeit, lange nachzudenken. »Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen, Mister Hunter«, sagte er schnell, fast hastig. »Aber… es dauert nur fünf Minuten, und…«
Hunters Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Also«, sagte er grob, »was wollen Sie?«
Zamorra zog eine Visitenkarte aus seiner Jacke und reichte sie dem Alten. »Ich habe gehört, was Ihrer Tochter zugestoßen ist«, sagte er. »Und - ich würde sie mir gerne ansehen.«
»Wozu?« blaffte Hunter. »Mary ist kein Ausstellungsstück, Mister Zamorra.« Er drehte die Visitenkarte unschlüssig in den Händen und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, die winzige Schrift unter dem Namenszug zu entziffern.
»Professor?« fragte er. »Was für’n Professor sind Sie denn?«
»Parapsychologie.«
»Para - was?« echote Hunter mißtrauisch. »Sind Sie Nervenarzt oder sowas?«
»Oder sowas«, antwortete Zamorra geduldig.
Hunter überlegte. Zamorra konnte deutlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Schließlich trat er einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste. »Na gut. Fünf Minuten. Aber versprechen Sie sich nicht zuviel -sie war zwei Wochen in der Klinik, aber die haben ihr nicht helfen können.« Er wartete, bis Zamorra und Nicole eingetreten waren, ehe er die Tür schloß und eine unbestimmte Geste in Richtung Treppe machte. »Sie ist dort oben. Warten Sie - ich gehe voraus.« Mit schnellen, energischen Schritten, die seine ältlich wirkende Gestalt Lügen straften, eilte er an ihnen vorbei die schmale, steile Holztreppe hinauf. »Meine Frau ist bei ihr. Warten Sie einen Augenblick.« Er hob die Hand wie ein Polizist, der einen Wagen zum Stoppen bringen will, und verschwand hinter einer niedrigen, grauen Tür, von der der Lack absplitterte.
»Du weißt, was du tust«, flüsterte Nicole. »Streng genommen machen wir uns strafbar.« In ihre Augen trat ein besorgter Ausdruck. »Was hast du bloß? Ich habe dich noch nie so erlebt wie in der letzten halben Stunde. Erst stößt du Martens vor den Kopf, dann verschaffst du dir mehr oder weniger illegal hier Zutritt…«
»Das Mädchen weiß etwas«, gab Zamorra zurück. »Und ihr Wissen kann lebenswichtig für uns sein.«
Nicole setzte zu einer Antwort an, aber in diesem Moment kam Hunter zurück. »Sie können zu ihr«, sagte er übellaunig. »Aber nur fünf Minuten - und danach unterhalten wir uns.« In seiner Stimme lag eine unausgesprochene Drohung, und die Feindseligkeit in seinen Augen war kaum zu übersehen.
Zamorra konnte dem Mann sein Benehmen nicht verübeln. Soweit er wußte, war Mary-Lynn das einzige Kind der Hunters, ein Kind noch dazu, das zu einem Zeitpunkt gekommen war, als die beiden schon nicht mehr damit gerechnet hatten, Kinder haben zu können. Für sie mußte eine Welt zusammengebrochen sein, als das Unglück geschah.
Sie traten hinter Hunter in den kleinen, abgedunkelten Raum. Es war eigentlich mehr eine Kammer, die gerade Groß genug für ein Bett und einen Stuhl war. Das Fenster war mit einem bunten Stoffetzen verhangen, sodaß das Sonnenlicht in schrägen, verwirrenden Bahnen aus hell und dunkel hereinfiel. Es roch nach
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