0196 - Die Mörderklaue
geographisches Nachschlagewerk, sondern beschäftigte sich mit der Ausbreitung von Volksstämmen und Rassen.
Die Macher dieses Buches hatten sich dabei von alten Überlieferungen leiten lassen und Orte in Gegenden gesetzt, die zwar noch heute existierten, doch die Ortsnamen waren längst in Vergessenheit geraten.
So sah ich auf der blaugrau gezeichneten Wasserfläche, die die Nordsee darstellen sollte, zahlreiche Punkte und auch größere Flecken, die auf versunkene Städte hinwiesen. Inseln, die irgendwann untergegangen waren.
Manche dieser Inseln existierten nur in der Sage oder Legende, aber in diesem Atlas waren sie eingezeichnet.
Und ich fand den Ort namens Glora.
Er lag in der Nähe von Llanon, einem kleinen Dorf, dessen Name in die Neuzeit übernommen worden war.
»Dicht an der Küste«, murmelte ich und klappte den Atlas wieder zu.
»Ob es Glora überhaupt wirklich gibt?«
»Das weiß man bei diesem Atlas nie. Dort ist sogar Atlantis eingezeichnet.«
»Wo?«
»Im Atlantik.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nach neuesten Forschungen soll dies ja nicht stimmen. Atlantis muß im Mittelmeer gelegen haben.«
Lady Sarah lächelte. »Sie waren doch da, John.« [2]
»O Gott, da hatte ich etwas anderes zu tun, als zu fragen, wo Atlantis nun liegt. Schließlich stand der Kontinent bei meinem Besuch dicht vor dem Untergang.«
»Auf jeden Fall wissen wir jetzt, wo wir diesen Ort finden können«, sagte Mrs. Goldwyn bestimmt.
Ich verzog das Gesicht. »Wieso wir?«
»Nun, ich werde mit nach Glora fahren. Schließlich bin ich von Beginn an dabei gewesen.«
Heftig schüttelte ich den Kopf. »Das kommt nicht in Frage, Mrs. Goldwyn. Sie haben gesehen, wie die Frau unter meinen Händen zu Staub wurde. Soll Ihnen das gleiche geschehen?«
»Bin ich eine Dämonin?«
»Nein, das nicht«, erwiderte ich ergeben. »Aber…«
»Kein aber, mein Junge. Ich fahre mit. Und wenn Sie sich kratzbürstig anstellen, macht das gar nichts, dann nehme ich eben den Zug oder den Bus, da habe ich ja Erfahrung und..«
»Hören Sie auf«, rief ich. »Hören Sie auf! Nur nicht den Bus.« Ich dachte dabei an eine Busfahrt, wo als Passagiere plötzlich Zombies eingestiegen waren und Mrs. Goldwyn ein grauenvolles Abenteuer erlebt hatte.
»Dann nehmen Sie mich also mit, John?«
»Bleibt mir etwas anderes übrig?«
»Im Prinzip nicht. Außerdem soll man einer Lady keinen Wunsch abschlagen, mein Junge.«
Ich verdrehte die Augen. »Sie haben mal wieder des Pudels Kern getroffen.«
Die Horror-Oma blinzelte verschmitzt. »So muß das auch sein, mein Lieber…«
***
Noch in der Nacht wurde die Tote untersucht. Und zwar von den Spezialisten des Yard.
Nach zwei mir unendlich lang erscheinenden Stunden schüttelte der zuständige Doc den Kopf. »Tut mir leid, Sinclair, wie ich es Ihnen schon vorher sagte. Da ist alles okay.«
»Was heißt das genau?«
Der Arzt zog mit zwei Fingern seine Gesichtsfalten nach und entledigte sich seiner Handschuhe. Er warf die dünnen, durchsichtigen Dinger in einen Papierkorb. Dann ließ er sich auf einen Schemel fallen, der einigermaßen im Schatten stand und nicht von der grellen Lampe unter der Decke erreicht wurde, die nur die zu untersuchende Leiche anleuchtete.
»Tod durch Herzschwäche. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Das Herz hat plötzlich aufgehört zu schlagen. Das findet man oft. Schauen Sie sich mal die Todesanzeigen an.«
Ich schüttelte den Kopf. »Trotzdem, Doc…«
»Nichts Übersinnliches dabei. Ein rein medizinischer Fall. Keiner für einen Geisterjäger.«
»Und die Hand?«
»Welche?«
»Die rechte.«
»Auch normal. Keinerlei Veränderungen der Haut oder des Gewebes. Sie sitzen auf dem falschen Dampfer. Fahren Sie nach Hause und hauen Sie sich aufs Ohr. Mein Dienst endet leider erst um sechs Uhr früh. Bis dahin muß ich noch durchmachen.«
Ich nickte. »All right, Doc. Dann veranlassen Sie alles für eine Überführung.«
»Wieso?«
»Es entsprach dem letzten Wunsch der Toten, daß sie in Wales beerdigt wird.«
»Und wer übernimmt die Kosten. Wir hatten da mal einen Fall…«
»Das regle ich.«
»Wie Sie meinen.«
Ich verabschiedete mich von dem Arzt und gondelte nach Hause.
Mitternacht war vorbei, so daß ich durch ein relativ ruhiges London fuhr.
Mit meinen Gedanken war ich nur bei dem neuen Fall. Ich ahnte jetzt schon, daß mehr dahintersteckte.
Ziemlich müde erreichte ich die Tiefgarage, stellte den Bentley auf dem gewohnten Platz ab, fuhr nach oben und haute mich
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