02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
gelten dieselben Regeln. Craig erlaubt seinen Töchtern, in der Wohnung einer Nachbarin zu spielen, die die ganze Geschichte kennt. »In jedem Zimmer des Hauses gibt es Fenster, die immer geöffnet sind«, erklärte Craig. »Ich sehe, wenn sie hinübergehen, und ich beobachte sie 223
dauernd vom Fenster aus.« Stephanie darf auf einer ruhigen Straße hinter dem Haus mit Freundinnen radfahren, solange sie in Sichtweite bleibt. Wenn die Mädchen bei seinen Eltern sind, fühlt sich Craig sicher. Ein Swimmingpool ist dort die Hauptattraktion. Aber das sind die Grenzen seiner sorgenfreien Welt.
Wenn Craig mit seinen Töchtern Besorgungen macht, trägt er eine 22er Magnum Derringer bei sich. Im Haus hat er in jedem Zimmer eine geladene Waffe versteckt, natürlich außer Reichweite der Mädchen. Dreimal in der Woche ruft er Vera in Fulda an. Wenn sie sich meldet, legt er sofort auf. Ihm ist wohler, wenn er weiß, daß sie sechs Zeitzonen von ihnen entfernt ist.
Manchmal überlegt Craig, ob er vielleicht überängstlich ist. »Was ich hier tue, scheint mir so unwirklich«, sagte er. »Manchmal denke ich, ich brauchte doch nicht ständig aufzupassen . . . Aber was ist, wenn Vera in ein Flugzeug steigt? Was, wenn sie mich im Park gegenüber aus einem Leihwagen heraus beobachtet und ich ins Haus gehe und die Kinder draußen lasse? Es dauert nur eine Minute.« Craig überläßt nichts dem Zufall. Wenn ein Jugendlicher auf dem Gehweg vor dem Haus eine Limoflasche zerschlägt, steigt er sofort aus dem Bett, um nachzusehen. Wenn abends in der Nähe des Hauses ein fremder Wagen auftaucht, wählt er den Notruf.
»Es ist nie wirklich vorbei«, erzählt er niedergeschlagen. »Es geht einfach immer weiter.«
Tatsache bleibt, daß Vera die Mutter seiner Töchter ist und daß die Erinnerung an sie nie ganz verschwinden wird. Nach letzten Angaben arbeitet sie in einem Kiosk in Fulda und verkauft dort Zigaretten und Bier. Alle zwei Wochen ruft sie ihre Kinder an. Stephanie weigert sich meistens, an den Apparat zu kommen, aber Craig bringt sie schließlich dazu, daß sie im Wohnzimmer den Hörer abnimmt. »Ich Weiß, wie es ist, völlig ausgeschlossen zu sein, es ist ein schreckliches Gefühl. Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, wie mir zumute war. Ich kann mir vorstellen, wie es ist, wenn ein Kind am Telefon sagt: >Ich will nicht mit dir sprechen.< Deshalb bitte ich Stephanie immer: >Sag einfach nur hallo und daß du gerade einen Zeichentrickfilm siehst. Das versteht sie dann schon.<«
Obwohl Vera in den letzten zwei Jahren mehr als einmal gedroht hat, Craig umzubringen, tut sie ihm immer noch »irgendwo leid. Aber damit muß Schluß sein, für mich und für meine Töchter.«
Stephanie hat ihr Deutsch fast vollständig vergessen, bis auf die Zeile eines Kinderverses: »Augen, Nase, Mund und Ohren.« Die Angst vor einer Rückkehr nach Deutschland ist stärker als die Sehnsucht nach der Mutter. Als Craig mit den Mädchen beim örtlichen Burger King kürzlich mittags Chicken-Nuggets aß, fragte er sie beiläufig, ob sie Vera gerne besuchen würden, und beide nickten.
»Möchtet ihr, daß sie kommt und bei uns bleibt?« fragte er weiter.
Stephanie verzog unschlüssig das Gesicht. »Ja und nein. Ich habe ein wenig Angst.«
»Hast du Angst, sie könnte dich wieder zurück nach Deutschland bringen?« Stephanie schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Du bist doch hier«, sagte die Sechsjährige. »Sie kriegt mich nie wieder zurück.«
»Und was würde Daddy tun, wenn ein paar blöde Leute versuchen würden, in unser Haus einzudringen?«
»Du würdest sie umbringen!« rief Stephanie im Brustton der Überzeugung, der verriet, daß sie diese Antwort schon oft gegeben hatte.
Samantha meldete sich mit ihrer piepsigen Stimme zu Wort: »Und den doofen David sehen wir nie wieder.«
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»Richtig, Schatz«, sagte Craig und wischte etwas Ketchup vom Mund des kleinen Mädchens.
Alleinerziehende Väter oder Mütter haben es nicht leicht und Craig ist da keine Ausnahme. Um mehr Zeit mit den Mädchen verbringen zu können, arbeitet er nicht ganztags. In Muskegon ist es ohnehin schwer, Arbeit zu bekommen-die Arbeitslosenquote liegt bei zwölf Prozent.
Craig bestreitet seinen Lebensunterhalt heute mit Autoreparaturen und Gelegenheitsarbeiten im Detektivbüro seines Vaters und mit finanzieller Unterstützung durch seine Familie und Kirche. Wenn seine Nerven sich bemerkbar machen, wartet er, bis die Mädchen Mittagsschlaf halten,
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