02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Mariann. Das war keine leichte Aufgabe. Adora, offenbar durch die Anwesenheit ihrer Mutter verwirrt, wurde wild und hyperaktiv. Sie kletterte auf Regale und hängte sich an Türrahmen, fiel dabei oft herunter und verletzte sich. Adam dagegen bekam Wutanfälle und leistete offen Widerstand. Mariann konnte nie etwas richtig machen.
Versuchte sie, die Kinder zur Ordnung zu rufen, tadelte Khalid sie dafür. War sie liebevoll und nett zu ihnen, zeigte er sich ebenfalls unzufrieden und fühlte sich selbst vernachlässigt. »Du bist ja nur wegen der Kinder gekommen«, sagte er dann. »Ich bin dir egal.«
Obwohl sie sich in Mosul nie heimisch fühlte, machte sie auch positive Erfahrungen, und ihre Bewunderung für das Volk, das sie früher so gefürchtet und mit Mißtrauen betrachtet hatte, wuchs ständig. »Die Iraker sind das freundlichste Volk der Welt«, meinte sie. »Sie tun alles für dich. Wenn du jemanden besuchst und er hat selbst kaum etwas zu essen, gibt er dir das wenige, oder er läuft, während du dasitzt, schnell zum nächsten Laden und kauft, was du essen möchtest. Sie sind zehnmal herzlicher und gastfreundlicher als die Amerikaner. Ich mußte mich gewaltig umstellen, als ich wieder zurückkam.«
Die größte Gastfreundschaft hat natürlich ihre Grenzen, wenn der Gast nichts ißt. Und Mariann hatte während ihres ganzen Aufenthalts in Mosul Probleme mit dem Essen. Ob es nun am Streß oder an den fremden Speisen lag (»Sämtliches Gemüse war mir zu bitter«), sie hatte auf nichts Appetit, was Sageta zubereitete. Wenn sie sich zum Essen zwang, konnte sie es nicht bei sich behalten. Eine Ausnahme waren die Wassermelonen, die Khalid gelegentlich auf dem Nach-259
hauseweg von der Arbeit mitbrachte. Oft waren die Früchte zu Marianns Enttäuschung freilich noch unreif. Da kaum noch Waren eingeführt wurden, mußten die irakischen Bauern die Früchte aufgrund des großen Bedarfs zu früh ernten.
In der dritten Woche verschlechterte sich ihr Zustand so sehr, »daß ich nicht mehr schlucken konnte. Ich suchte eine Ärztin auf, die meinen Zustand für psychisch bedingt hielt.« Die Auswirkungen waren drastisch: Während ihres Aufenthalts im Irak von etwas mehr als einem Monat verlor Mari-ann rund 18 Kilo.
Ende Juli hatte sie kaum noch die Kraft, das Bett zu verlassen. »Seit ich nicht mehr aß, nahm ich alles nur noch wie durch einen Schleier wahr. Ich bekam nichts mehr mit . . .«
Khalid zeigte wie üblich wenig Verständnis: »Weißt du, wie viele Einladungen ich deinetwegen schon absagen mußte? Weil du dich zu nichts aufraffen kannst.«
Als Mariann eines Morgens halb bewußtlos aufwachte, erkannte sie, daß sie vor einer furchtbaren Wahl stand: Sie mußte entweder den Irak verlassen, oder sie würde hier sterben. Sie war zu schwach, um zu kochen oder auch nur mit den Kindern zu spielen. Ich bin für alle eine Belastung, dachte sie. Ja, sie mußte fort. Es gab nur noch eine Frage: Würde sie Adam mitnehmen können?
Vor ihrer Reise hatte Mariann nicht daran denken wollen, daß Khalid ihr vielleicht erlauben würde, nur ein Kind mitzunehmen. Wenn es soweit kam, hatte sie damals gedacht, würde sie Adora mitnehmen, die noch ein Baby war. Jetzt hatte sie aufgrund von Khalids Sturheit ihre Meinung geändert. Adora hatte sich relativ gut an das Leben im Irak gewöhnt, Adam dagegen war unglücklich. Seine Ankunft im Irak sei die schlimmste Überraschung seines Lebens gewesen, sagte er. Er habe sogar schon angefangen zu vergessen, wie seine Mutter aussah. »Ich hätte so gern ein Bild von dir gehabt«, schluchzte er. Adam vermißte vieles von zu Hause: 260
die Großeltern, den Freund von gegenüber und all die Spielsachen.
»Warum hast du mein Fahrrad nicht mitgebracht?« wollte er wissen. »Warum hast du meine G/-Joes nicht mitgebracht?«
»Adam«, erwiderte Mariann, »es wäre wirklich keine gute Idee gewesen, G/-Joes mitzubringen.«
Sie versprach ihm, alles zu tun, damit er mit ihr zurückkehren könne, und sie hatte einigen Grund zur Hoffnung.
Khalid hatte sich schon immer hauptsächlich um Adora gekümmert und mehr als einmal die Absicht geäußert, Adam in den USA zur Schule zu schicken. Er sagte, Mariann solle sich »bereithalten« und »schon einmal packen«. Er und Adam würden sie nach Amman begleiten, und dort solle der Junge von der US-Botschaft einen Paß erhalten. Khalid deutete auch an, daß Adora und er in die USA folgen würden, sobald er den Videoladen verkauft habe. Den Zeitpunkt
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