02 - Der 'Mann in Weiß'
drängten sich bereits die Passagiere. Ein Matrose wies sie ein und achtete darauf, dass das Boot von vorne nach hinten aufgefüllt wurde. Dabei musste er kleine Streitigkeiten schlichten, denn die Doppelsitze jeder Reihe standen Rücken an Rücken.
Tom ergatterte einen Bullaugenplatz in der letzten Reihe. Ein Machotyp mit Hawaii-Hemd zwängte sich neben ihn auf den letzten freien Sitz, schnaufte und starrte stur geradeaus.
Als alle saßen, ging ein Zittern durch den Bauch der ATLANTIS. Das U-Boot drehte und fuhr ein Stück aufs Meer hinaus. Dann begann es langsam zu sinken. Tom warf zwar den einen oder anderen Blick aus dem Bullauge, aber viel mehr interessierten ihn die Passagiere. Er fragte sich, wer von ihnen Kontakt zu ihm aufnehmen würde.
Für einen Moment breitete sich andächtige Stille im Boot aus. Nur das Brummen der Diesel und das Geräusch der Schrauben waren zu hören. Durch die Bullaugenscheiben blickte man auf eine farbenprächtige Unterwasserwelt. Das Glas schien rot getönt zu sein, denn eigentlich filterte das Wasser bereits ab drei Metern Tiefe den Rotanteil des Lichts heraus und alles erschien nur noch in kaltem Blau.
Das allgemeine Geplapper setzte wieder ein, begeisterte Ausrufe wurden laut. Das Boot tauchte auf rund dreißig Meter Tiefe, umgerechnet hundert Fuß, denn dort befanden sich die Korallenriffe. Tom erinnerte sich daran, dass Jacques Cousteau sie in den Sechzigerjahren mit Fernsehreportagen in aller Welt berühmt gemacht hatte. Seine Spannung stieg aber nicht wegen der Haie, die plötzlich vor den Bullaugen auftauchten, sondern wegen der auf dem Zettel angegebenen Tiefe, die nun erreicht war.
»Haie sind schöne Tiere, nicht wahr?«, sagte der Mann neben ihm plötzlich in akzentbeladenem Englisch. »So elegant. Und doch nichts im Vergleich zur Eleganz der kleinen Statuen, die die Maya ihren Toten mit auf die lange Reise gegeben haben. Aber das wissen Sie sicher besser als ich, Mister Ericson.«
Tom lächelte. »Señor Cordova, wie ich annehme? Oder doch wieder nur einer seiner Mitarbeiter?«
»Dieses Mal bin ich's selber.« Der Mann im Hawaii-Hemd grinste. Er verströmte einen üblen Mundgeruch, jetzt, da er Tom von der Seite her ansprach.
»Ein interessanter Treffpunkt, den Sie da ausgesucht haben, Señor Cordova«, führte Tom das Gespräch in Spanisch fort.
»Ja, nicht wahr? Ich liebe diese ungewöhnlichen Orte. Und ich bin gerne unter der Oberfläche. Egal, ob nun unter Wasser oder unter der Erde. Nun, Señor Ericson, Sie haben mich gesucht und ich habe mich entschieden, dass Sie mich finden dürfen. Ich finde Archäologen nun… faszinierend. Der morbide Charme, der von ihnen ausgeht. Und die Dinge, die sie aus dem Boden holen, um sie der Welt zu… nun sagen wir: schenken. Was kann ich also für Sie tun?«
Tom schaute unwillkürlich über seine Schulter. Aber die Passagiere, die hinter seinem Rücken saßen, waren mit sich selbst beschäftigt. Zudem herrschte jetzt ein solcher Geräuschpegel, dass niemand ihr relativ leise geführtes Gespräch mitverfolgen konnte.
»Sie haben mich checken lassen, Señor Cordova, nicht wahr? Das ist völlig legitim. Aber was sollte das ganze Theater hinterher? Diese Señorita am Strand, die hat doch auch zu Ihnen gehört, stimmt's?«
»Nancy? Aber ja. Sie übernimmt gelegentlich kleine Aufträge für mich.«
»Ich dachte es mir schon, als sie von der Sammelleidenschaft ihres angeblichen Vaters sprach. Sie sollte mich wohl aushorchen, was?«
»Nun, ich habe ein bestimmtes Sicherheitsbedürfnis, wenn Sie verstehen, was ich meine. Erfolgreiche Geschäftsleute haben oft viele Neider.« Cordova lächelte. »Das alles sollte Ihnen aber auch zeigen, wie sicher Ihre Angelegenheit in meinen Händen ist ‒ was immer diese Angelegenheit auch sein mag. Aber das erfahre ich ja sicher jetzt von Ihnen.«
Tom nickte. »Ich bin… war ein Kollege von Señor Branson, wie Sie ja bereits wissen. Wir haben uns immer mal wieder ausgetauscht.«
»Sie sagten, Sie waren? Ist Ihre Freundschaft denn gescheitert?«
»So kann man das nicht sagen. Señor Branson ist tot.«
»Tot?« Erstaunen schlich sich in Cordovas Züge. »Was ist passiert?«
»Er wurde ermordet, von einer Gruppe sehr gut gekleideter Indios, direkt bei seiner aktuellen Ausgrabungsstätte.«
»Grabräuber?«
»Ich weiß es nicht, und ich wollte sie auch nicht danach fragen. Als die Mörder weg waren, ist Branson in meinen Armen gestorben. Seine letzten Worte waren: ›Mérida. Cordova
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