02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
Onkel Emanuel baute eine schlichte Kirche aus Lehm, Holz und Blech, die nur über eine einzige, abgegriffene Bibel verfügte. Sie genügte, denn lesen konnte ohnehin kaum jemand. Bis auf meinen Vater! Der hatte in der Missionsschule im Heimatdorf vier Jahre lang gut aufgepasst. Das blieb Onkel Emanuel nicht verborgen. Da man keinen Pastor für die selbst gebaute Kirche bekommen konnte, übernahmen Mitglieder der Gemeinde die Predigt, vorzugsweise Papas redegewandter Onkel. Und Vater, etwa zwölf Jahre alt, las aus der Bibel vor. Er, der als Diener gekommen war, stand somit nach kurzer Zeit jeden Sonntagmorgen im Mittelpunkt: Der kleine David hatte Zugang zur
„Wahrheit“, dem Wort Gottes.
Immer öfter kamen auch die älteren Männer zu ihm und ließen sich von ihm mit Dingen helfen, die irgendwie mit Lesen und Schreiben zu tun hatten. Dieses Wissen, das er den anderen voraus hatte, zusammen mit seiner hilfsbereiten Art, machte ihn in der ärmlichen Gegend rasch zu einer wichtigen Person. Inmitten so vieler Leute, die er täglich traf, wusste er, was die Menschen brauchten.
Einerlei, ob es sich dabei um heimliche Liebeswünsche, die Suche nach einer Arbeit oder um Dinge des täglichen Bedarfs handelte - vor allem Essen.
Irgendwann verliebte sich Papa David in die Tochter seines Onkels - Patricia, die spätere Mama Patty! Als sie Moses gebar, war sie schätzungsweise 18, Papa David circa 16 (in Nigeria werden Geburten öfter verspätet oder auch - wie in meinem Fall - gar nicht registriert). Gleichwohl gestattete der Onkel, dass die beiden nach ihrer Heirat in seinem Haus wohnen blieben. Jung, wie mein Vater war, machte er aber einen Fehler: Er schwängerte auch eine von Pattys Schwestern, Felicitas. Wieder bestand der Onkel auf einer Ehe. So hatte Papa David mit 17 bereits zwei Frauen und mittlerweile drei Kinder, allesamt Söhne. Indem Onkel Emanuel Vater aus dem Haus warf, setzte er ihn unter Druck, für das Auskommen seiner sechsköpfigen Familie zu sorgen. Was mitten in einer Wellblechsiedlung ein echtes Problem ist.
Zu dieser Zeit bereiste ein Afroamerikaner aus New York Nigeria, dessen Vorfahren aus Lagos stammten. Vater glaubte an eine göttliche Fügung, dass er den Mann ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt kennen lernte. Dem Fremden erzählte Papa David von seiner Überzeugung, dass Jesus kein Weißer gewesen sei. Zum ersten Mal in seinem Leben bekam Vater zu hören, dass er mit dieser Idee keineswegs allein dastand!
Papa David lieh sich von dem Mann aus New York einen geringen Geldbetrag, mit dem er ein schlichtes Gotteshaus einrichtete. Es befand sich genau vor jener Hütte, in der er mit seinen beiden Frauen und den drei Kindern wohnte. Im Vorgarten sozusagen. Aber das ist etwas hochtrabend ausgedrückt, denn das kleine Stück Land diente gleichzeitig als Heimstatt vieler Hühner, eines Schweins und mehrerer Ziegen, die den mageren Boden umgruben. In jenen Jahren machte sich Nigeria gerade politisch von der Kolonialmacht England frei. Papa David bot den Menschen, wonach sie hungerten: Sie waren wegen ihrer Hautfarbe keine Menschen zweiter Wahl mehr.
Der Mann aus New York hatte Vater erzählt, dass die freien Gemeinden seiner Heimatstadt sich aus regelmäßigen Geldzahlungen der Mitglieder finanzierten.
Bis zu 20 Prozent ihres Einkommens stifteten die Gläubigen für den Aufbau und den Erhalt ihrer Gotteshäuser und deren Einrichtungen. Dieses System übernahm Papa David, wie er trotz seiner Jugend - er war gerade mal Anfang 20
- bereits respektvoll genannt wurde. Er bat seine Gemeindemitglieder allerdings nur um fünf Prozent ihres Einkommens. Ich nehme an, es waren minimale Beträge, die auf diese Weise zusammenkamen, denn in jenen Anfangsjahren verdiente ja kaum jemand etwas.
Die Familie bestand bereits seit mehr als einem Jahr, als eine junge Frau namens Yemi die übliche Sonntagsversammlung morgens um neun besuchte. Seit ihrer Geburt litt sie unter einer Lähmung beider Beine, so dass sie von ihren Angehörigen getragen werden musste. Mama Patty, die an jenem Sonntagmorgen anwesend gewesen war, erzählte uns oft, dass niemand gesehen hatte, wie es geschehen war. Die von den lauten Gesängen berauschte Menge bemerkte plötzlich, dass die gelähmte Yemi sich unter die Tanzenden gemischt hatte.
Von diesem Sonntag an war die Kirche derart überfüllt, dass die Menschen bis hinaus auf die schmalen Wege der Nachbarschaft standen. Und von Mal zu Mal kamen mehr. Sie brachten Kranke mit, wollten
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