02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
den Verkauf von Oma Marias Wiesen hatte Mutter eine solch enorme Menge Geld bekommen, dass man mir ohne weiteres zwanzig oder dreißig neue Hüftgelenke hätte einbauen lassen können. Das einzige Ergebnis meines Aufenthalts in der Klinik war ein Paar Schuhe mit erhöhtem Absatz. Ich trug sie nicht oft, denn sie drückten. Im Harem achtete niemand darauf, ob ich sie anzog. Und da auch sonst niemand Schuhe an den Füßen hatte, ließ ich sie gerne weg. Als Mutter endlich aus Deutschland zurück war, befahl sie mir, die Schuhe zu tragen. Aber da passten sie mir schon kaum noch, was ich für einen Glücksfall hielt. Also humpelte ich weiter wie zuvor. Ich hatte mich daran gewöhnt.
Kaum war Mutter wieder im Harem, packten wir schon für die Rückreise nach Jeba. Der Abschied von Lagos fiel mir nicht sonderlich schwer, da ich mich dort seit unserer Rückkehr nicht mehr richtig wohl gefühlt hatte. Im Auto bekam ich mit, dass sie in Deutschland sehr viel Ärger mit ihrer Familie in Bayern gehabt hatte. Sie sprach mit Mama Bisi darüber, ihrer besten Vertrauten, wenn die beiden glaubten, dass ich schlief. Die Verwandten warfen Mutter vor, das Erbe in Afrika zu verschleudern. Sie hatte in ihrer Heimat wohl eine ziemlich schlechte Zeit durchgemacht.
„Ich habe meine Wurzeln verloren“, hörte ich Mutter sagen.
In Jeba humpelte Corn schwanzwedelnd auf uns zu und leckte mir vor Freude die Hände, als ich aus dem Auto stieg. Doch er sollte der Einzige sein, der uns freudestrahlend begrüßte. Mama Ada empfing uns voller Sorge. Sue war schwer krank, hatte hohes Fieber und konnte keine Nahrung bei sich behalten. Die Kleine war matt und ausgezehrt, viel zu schwach zum Reden. Wir vier wussten natürlich alle, dass Anlass zu größter Sorge bestand. Mama Bisis Prophezeiung schien uns die Luft zum Atmen abzuschnüren. Mama Ada und ich wichen überhaupt nicht mehr von Sues Seite, sangen ihr Lieder vor, versuchten, ihr Wasser und Medizin zu verabreichen. Mama Bisi war davon überzeugt, dass Sue an Malaria litt.
Schließlich beschloss Mutter, dass Sue in die Klinik ins 60 Kilometer entfernte Jos gebracht werden müsse. Allerdings hatte sie diese Entscheidung mit Papa David abzustimmen. Dazu musste sie am Markttag, dem einzigen Tag, an dem sie in die Stadt kam, zum Postamt gehen und ihn anrufen.
Vater lehnte die kostspielige Behandlung für seine Tochter ab. „Sie ist nur ein Mädchen und Ada wird noch viele Kinder haben können“, beschied Papa David die verzweifelten Frauen, die um das Leben der kleinen Sue beteten.
Vielleicht wäre es auch tatsächlich sinnlos gewesen, Sue ins Krankenhaus zu bringen. Inzwischen war sie so abgemagert,
dass sie nur noch teilnahmslos auf ihrer Bettstatt neben uns lag. Sie schlief in ihren Tod hinein. Schon am nächsten Morgen wurde sie begraben. Mama Bisi, Mama Ada und Mutter hoben schweigend ein Grab neben den Bougainvilleabüschen aus. Die kleine Sue bekam eine schöne Beerdigung mit vielen Gebeten und Gesang. Es kamen nicht viele Menschen. Zu oft kam es vor, dass ein Kind starb. Für mich war es die erste Begegnung mit dem Tod. Und wie alle Kinder konnte ich es nicht verstehen.
„Der Herr gibt und nimmt“, lautete die Inschrift, die Mama Ada für ihr Kind ausgesucht hatte. Susan, die unbefleckte Blume, wurde nur zweieinhalb Jahre alt. Gott hatte mir ein Schwesterchen geschenkt, das ich liebte wie sonst kaum einen Menschen. Und er hatte es mir wieder genommen.
Sue sei nun im Paradies, dachte ich, wenn ich an ihr Grab unter den Sträuchern ging, in denen die Bienen nach Nahrung suchten. Ich fühlte mich unendlich einsam ohne mein Schwesterchen, auf das ich doch so gut aufpassen wollte.
Aber ich war wohl zu jung, um die kleine Sue beschützen zu können. Und meine beiden Lieblingsschwestern Efe und Jem auch - obwohl wir es uns so fest vorgenommen hatten. Damals suchte ich vor allem bei meinem Lebensretter Corn Zuflucht.
Sicher, Papa David liebte mich und gewiss auch seine Tochter Sue, die er insgesamt nur zweimal gesehen hatte. Aber bei ihm im Harem lebten damals über 30 andere Töchter. Während ich unter Bisis Sträuchern sinnierte, fragte ich mich, ob das Herz eines Vaters wirklich groß genug sei, um so vielen Nachkommen gerecht zu werden. Wir sollten alle gleich behandelt werden. Das war sicher ein guter Vorsatz, den Papa David auch beherzigte. Aber mit meinen zehn Jahren wagte ich erstmals den Gedanken, ob man damit jedem einzelnen Menschen gerecht werden könne. Für mich selbst
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